Die Sammlerin der verlorenen Wörter by Williams Pip

Die Sammlerin der verlorenen Wörter by Williams Pip

Autor:Williams, Pip
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Diana Verlag
veröffentlicht: 2021-11-05T07:10:14+00:00


TEIL 4

1907–1913

Polygenous – Sorrow

September 1907

Die Wörter nahmen kein Ende. Genauso wenig ihre Bedeutung, ihre Verwendung. Die Geschichte mancher Wörter reichte so weit zurück, dass unser heutiges Verständnis davon nichts weiter war als ein ferner Widerhall des Originals, seine Verzerrung. Ich hatte immer gedacht, es wäre genau umgekehrt, nämlich dass die sperrigen Wörter der Vergangenheit unbeholfene Entwürfe dessen waren, was einmal aus ihnen werden sollte; dass erst die Wörter auf unseren Zungen, in unserer Zeit, richtig und vollständig waren. Doch ich begriff, dass alles, was nach der ersten Äußerung kam, in Wahrheit eine Entstellung war.

Ich hatte jetzt schon die genaue Form ihres Ohres vergessen, das besondere Blau ihrer Augen. Sie waren dunkler geworden, in den Wochen, die ich sie stillte; gut möglich, dass sie inzwischen noch dunkler geworden waren. Nacht für Nacht wachte ich von ihrem Phantomweinen auf, wohlwissend, dass ich nie auch nur ein einziges Wort mit dem Klang ihrer Stimme hören würde. Sie war perfekt, als ich sie im Arm hielt. Ohne jeden Zweifel. Die Beschaffenheit ihrer Haut, ihr Geruch und ihr leises Schmatzen beim Saugen konnten nur so sein und nicht anders. Ich hatte sie perfekt begriffen.

Mit jedem neu heraufziehenden Tag erschuf ich sie bis ins Detail neu. Ich begann mit den durchsichtigen Nägeln ihrer winzigen Zehen, um mich dann über ihre knubbeligen Gliedmaßen und ihre cremeweiße Haut bis zu ihren goldenen, noch kaum vorhandenen Wimpern vorzuarbeiten. Doch irgendwann tat ich mich jedes Mal schwerer, eine Kleinigkeit zu erinnern, und verstand, dass die Erinnerung an sie im Lauf der Tage, Monate und Jahre verblassen würde.

Lie-child. Bankert. So hatte die Hebamme sie genannt. Aber das Wort stand nicht in Leisureness – Lief. Ich schaute in den Regalfächern nach: fünf Belegzettel, an denen ein Deckblatt befestigt war. Es war also definiert worden. Ein uneheliches Kind; ein Bastard. Es war nicht ins Wörterbuch aufgenommen worden. Auf dem Deckblatt fand sich eine Notiz: Dasselbe wie love-child, Kind der Liebe – streichen.

Aber war es ein Kind der Liebe? Liebte ich Bill? Vermisste ich ihn?

Nein. Ich hatte nur mit ihm geschlafen.

Aber sie liebte ich. Ich vermisste sie.

Keines der Wörter, die ich fand, konnte sie definieren, und irgendwann hörte ich auf, danach zu suchen.

Ich arbeitete. Ich saß an meinem Pult im Skriptorium und füllte die Leerstellen in meinem Kopf mit anderen Wörtern.



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