Die Musik und das Unaussprechliche by Jankélévitch Vladimir

Die Musik und das Unaussprechliche by Jankélévitch Vladimir

Autor:Jankélévitch, Vladimir
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2016-06-27T16:00:00+00:00


Denkst du noch, Maria,

An die verlornen Tage?

Das flüchtige und unumkehrbare Ereignis, die sich auflösende Qualität, die Abwesenheit, ein lange vergangenes Geschehnis, das nie wieder eintreten wird – dies sind die bevorzugten Gegenstände der sanften musikalischen Melancholie. Ist die Musik nicht so etwas wie eine verzauberte Zeitlichkeit? Eine idealisierte, beruhigte, von jeder konkreten Unruhe geläuterte Sehnsucht? – Wenn die Musik nämlich ganz zeitgebunden ist, so ist sie gleichzeitig auch ein Protest gegen das Unumkehrbare und dank der Erinnerung ein Sieg über dieses Unumkehrbare, ein Mittel, um das Gleiche im anderen wiederzuerleben. In der Musik, haben wir gesagt, ist eine Wiederholung kein Noch-einmal-Gesagtes! Die Reminiszenz erschien uns zuvor als eine ausweichende und andeutende Möglichkeit, etwas heraufzubeschwören und es zu entziehen, obwohl man es heraufbeschwört. Nun ist sie aber auch die Kunst, etwas zu behalten: die Kunst der Erinnerung! Nesabudka, »Vergissmeinnicht«. Diese Meditation von Arenski[28] über eine gepresste Blume bekundet in ihrer eigenen Sprache die Treue zur Vergangenheit, die Verehrung der fernen, entschwundenen und trotz alledem unendlich kostbaren Dinge, das Bemühen des Poeten, den Flug der Stunden und die dahinfliehenden Tage zurückzuhalten. Wenn vor dem Schluss des sechsten Nocturne Faurés die große Anfangsphrase endlich aus der A-Dur-Passage hervortaucht, die wie eine Wolke über der ganzen Weite der Klaviatur schwebt, wenn das Pedal nach dem Orgelpunkt allmählich gehoben wird, dann kommt uns die große Nocturne-Phrase wie eine ferne und treue Freundin entgegen. Eigentlich hatte uns die brüderliche Vergangenheit niemals verlassen! Ist das Thema selbst im Fluss des Werdens der Melodie nicht so etwas wie eine Art emotionaler Reminiszenz und ein Hauch unsagbarer Erinnerungen? So sind diese erschütternden Vzpomináni [»Erinnerungen«] beschaffen, die Suks O matince [»Über das Mütterlein«] abschließen … Wenn die Ruhe schließlich zurückgekehrt ist, kommt es manchmal vor, dass wir ein Echo unserer Jugend wiederfinden, eine Erinnerung an jene Frühlingszeiten, die es nie wieder geben wird, einen vertrauten Gesang: Was das Mütterlein gesungen hatte, als es noch ein kleines Mädchen war, was das Mütterlein nachts seinem kranken Kind vorsang, sogar die mütterlichen Herzschläge. Faurés sechstes Nocturne und Suks Album sind beide, jedes auf seine Art, eine Verdichtung unserer durchlebten Zeit; alle beide enden träumerisch, so wie manchmal ein Leben, wenn es die Stürme und Bewährungsproben hinter sich lässt, in der ruhigen Meditation eines langen Abends endet.



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