Die letzten Zeugen by Swetlana Alexijewitsch
Autor:Swetlana Alexijewitsch [Alexijewitsch, Swetlana]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783446248731
Herausgeber: Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2014
veröffentlicht: 2015-10-07T16:00:00+00:00
››Weil wir Mädchen sind, und er ist ein Junge …‹‹
Rimma Posnjakowa, 6 Jahre
Heute Arbeiterin
Ich war im Kindergarten … Spielte mit Puppen …
Ich werde gerufen: »Dein Papa will dich abholen. Es ist Krieg!« Ich will nicht weg. Ich will weiterspielen. Ich weine.
Was ist das – Krieg? Wie – ich kann getötet werden? Oder Papa? Und noch ein unbekanntes Wort: Flüchtlinge. Mama hängte uns Beutel mit unseren Geburtsurkunden und Zettel mit unserer Adresse um den Hals. Falls sie getötet wurde, damit man wusste, wer wir sind.
Wir liefen lange, sehr lange. Wir verloren Papa. Erschraken. Mama sagte, sie hätten Papa in ein Konzentrationslager gebracht, aber wir würden zu ihm fahren. Was ist ein Konzentrationslager? Wir packten etwas zu essen ein, aber was? Gebackene Äpfel. Unser Haus war abgebrannt, der Garten auch, an den Apfelbäumen hingen gebackene Äpfel. Die haben wir gepflückt und gegessen.
Das Konzentrationslager befand sich in Drosdy, am Komsomolskoje-See. Heute ist das schon Minsk, damals war das noch ein Dorf. Ich erinnere mich an schwarzen Stacheldraht, auch die Menschen waren schwarz und sahen alle gleich aus. Wir erkannten Vater nicht, aber er erkannte uns. Er wollte mich streicheln, aber ich traute mich nicht näher an den Stacheldraht heran und zog Mama weg – nach Hause.
Wann und wie Vater heimkehrte, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich, dass er in der Mühle arbeitete und dass Mama uns immer mit Essen zu ihm schickte – mich und meine kleine Schwester Toma. Toma war noch ganz klein, aber ich war größer, ich trug schon ein Leibchen, vor dem Krieg gab es solche Kinderleibchen. Mama gab uns einen Beutel mit Essen und steckte mir Flugblätter ins Leibchen. Die Flugblätter waren klein, Seiten aus Schulheften, mit der Hand beschrieben. Mama brachte uns auf die Straße, weinte und schärfte uns ein: »Ihr dürft mit niemandem reden, nur mit Papa.« Dann stand sie da und wartete auf unsere Rückkehr, bis sie sah, dass wir lebendig wiederkamen.
An Angst erinnere ich mich nicht … Wenn Mama sagte, wir müssen gehen, dann gingen wir. Mama hat es gesagt – das war die Hauptsache. Wir hatten Angst, nicht zu tun, was Mama sagte, worum sie uns bat. Wir hatten unsere Mama sehr lieb. Wir konnten uns nicht vorstellen, nicht auf sie zu hören.
Es war kalt, wir krochen alle auf den Ofen, wir besaßen einen großen Schafpelz, und mit dem deckten wir uns alle zu. Um den Ofen zu heizen, liefen wir zur Bahnstation, Kohlen klauen. Auf allen vieren krochen wir voran, damit der Posten uns nicht bemerkte, auf Knien und Ellbogen. Wenn wir mit einem Eimer Kohle zurückkamen, sahen wir aus wie die Schornsteinfeger: Knie, Ellbogen, Nase und Stirn – alles schwarz.
Nachts legten wir uns gemeinsam zu Bett, niemand wollte allein schlafen. Wir waren zu viert: Ich, meine beiden Schwestern und der vierjährige Boris, den Mama adoptiert hatte. Später erfuhren wir, dass Boris der Sohn der Untergrundkämpferin Ljolja Rewinskaja war, einer Freundin von Mama, damals sagte uns Mama nur, da sei ein kleiner Junge, der sei oft allein zu Hause, habe Angst und nichts zu essen.
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