Die erloschene Flamme. Schicksale meiner Zeit by Margarete Buber-Neumann
Autor:Margarete Buber-Neumann [Buber-Neumann, Margarete]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783105605950
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2015-10-24T16:00:00+00:00
Nachdem Bella eine neuerliche Prüfung bestanden hat und zur Selbständigen Schwester aufsteigt, bekommt sie im Krankenhaus von Witebsk, einer größeren Stadt in Weißrußland, einen Posten als Leiterin der dortigen Kinderabteilung. Der eigentliche Grund, der sie aus Krasnaja Slaboda vertrieb, waren Unstimmigkeiten mit Mulli. Er hatte begonnen, sich mit der Prostituierten des Ortes herumzutreiben. Und das ging zu weit.
In Witebsk hatte sich Bella gut eingelebt. Der Chefarzt des Krankenhauses, Dr. Lippschitz, war sehr nett zu ihr, und der Inhalt ihres Lebens waren die kranken Kinder.
»Es war der 22. Juni 1941. Ich machte meine Arbeit, wie der Arzt mir vorgeschrieben hatte, und ahnte nicht, was an diesem Tag über uns hereinbrechen würde. Die Wirtschafterin des Krankenhauses brachte aus der Stadt die Schreckensnachricht mit: Hitler hat Sowjetrußland den Krieg erklärt und die deutsche Armee stehe bereits kurz vor Witebsk! – Nach einer Stunde wurden Ärzte und Schwestern zum Chefarzt gerufen. Nur ich nicht. Alle gingen an mir vorbei, machten einen Bogen um mich, als sei ich eine Aussätzige. Ihre Blicke waren voller Feindseligkeit. Keine sprach auch nur ein Wort mit mir. So stand ich mutterseelenallein im Korridor. Mir war angst und bange. Was hatte ich nur verbrochen?
Nach einer halben Stunde verließen alle das Zimmer des Chefarztes. Sie standen in den Ecken herum und blickten verächtlich, ja haßerfüllt auf mich. Da faßte ich einen Entschluß. Da sich die Auszahlung unseres Gehaltes wieder einmal um zwei Wochen verzögert hatte, ich schon seit 14 Tagen meine Miete schuldig war und keinen Pfennig Geld mehr besaß, klopfte ich an die Tür von Dr. Lippschitz. Als er mich sah, wurde sein Gesicht starr vor Verblüffung. Ich brachte sofort mein Anliegen vor: ›Geben Sie mir, bitte, eine Genehmigung, daß man mir 100 Rubel von meinem Gehalt auszahlt, denn ich habe keine Kopeke mehr …‹
Jetzt hatte er sich gefaßt. Er brüllte mich an: ›Was fällt Ihnen ein, gerade jetzt wegen Geld zu mir zu kommen! Wissen Sie denn nicht, daß der Krieg ausgebrochen ist, und zwar mit den Deutschen?!‹ Dann deutete er mit dem Finger auf mich und rief mit überschnappender Stimme: ›Und Sie, Sie sind ja eine Deutsche! Außerdem habe ich kein Geld und am allerwenigsten für eine wie Sie, eine Deutsche!‹ Und dieser Dr. Lippschitz, selbst ein Jude, wußte genau, in welcher schrecklichen Lage ich mich befand. Er brüllte mit mir aus Angst vor den anderen. Er zitterte um sein Leben, und da war von Mitleid keine Rede mehr. So verhielt sich ein Jude zum anderen. Das war eine bittere Lehre. Wie sehr ich auch schluckte, es kamen die Tränen. Beschämt lief ich zur Tür, während Dr. Lippschitz mich noch lauter beschimpfte: ›Sie sind ein Feind des russischen Volkes! Es ist mir ganz egal, ob Sie verhungern oder nicht. Ich habe andere Sorgen! Wenn jemand Geld bekommt, dann erst meine Leute, die russischen Mädchen …‹ Er sprang auf, packte mich bei der Schulter, schmiß mich regelrecht raus und knallte die Tür hinter mir zu …
Mit dieser Arbeit war es aus. Ich ging nach Hause. Nur die Wirtin hatte ein paar mitleidige Worte für mich übrig.
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