Die Energien des Lebens und des Sterbens by Olvedi Ulli

Autor:Olvedi, Ulli [Olvedi, Ulli]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-426-41791-1
Herausgeber: Knaur eBook
veröffentlicht: 2013-01-02T16:00:00+00:00

Weibliche und männliche Energie

Primär muss die weibliche Energie gesund sein.

Tarab Tulku

Vater-Mutter-Buddha

Das Mandala-Prinzip manifestiert sich auch in der weiblich-männlichen Polarität der subtilen Energien. Der ikonographische Ausdruck der Ganzheit ist im buddhistischen Tantra das Bild zweier Gottheiten in sexueller Vereinigung, die »Vater-Mutter« (yab yum) genannt werden. Auf den sakralen Rollbildern ist die sitzende männliche Figur dem Betrachter zugewandt und die weibliche, wesentlich kleinere Figur umarmt die männliche; von ihr sieht man den Rücken, das Gesicht im Profil. Es gibt allerdings auch Abbildungen aus der Blütezeit des Tantrayana, auf denen die weibliche Figur dominiert und die männliche, im Schoß der weiblichen sitzend, kleiner dargestellt ist.

Die Bezeichnung Vater-Mutter für das Symbol der Einheit im innersten Bereich des Mandala drückt aus, dass – als dynamischer Aspekt – aus dieser Verbindung etwas entsteht: der erwachte Geist. Darin zeigt sich wieder die praktische, prozessorientierte Bedeutung des Mandala.

C. G. Jung hat in der Entwicklung seiner Tiefenpsychologie als erster psychologischer Forscher die Tatsache postuliert, dass jede menschliche Psyche einen weiblichen und einen männlichen Anteil enthält. Er nannte sie Anima (der zunächst unbewusste weibliche Anteil im Mann) und Animus (der zunächst unbewusste männliche Anteil in der Frau) und machte diese Erkenntnis sogar zu einem tragenden Pfeiler seiner psychotherapeutischen Arbeit. Diese Inspiration gewann er aus der Erforschung der mittelalterlichen Alchemie Europas, in der ihm immer wieder Bilder begegneten, die auf die notwendige Verbindung dieser inneren Aspekte hinwiesen. In einer Arbeit über das »Rosarium Philosophorum«, einem alchemistischen Text aus dem 16. Jahrhundert, erklärt er: »Dass gerade die Idee der mystischen Hochzeit in der Alchemie eine so bedeutende Rolle spielen sollte, ist insofern nicht erstaunlich, als der dafür häufig gebrauchte Ausdruck conjunctio in erster Linie das bezeichnet, was heute chemische Verbindung heißt … Die conjunctio ist ein Bild a priori, das seit jeher an hervorragender Stelle in der menschlichen Geistesentwicklung steht.«[29]

Nach Jungs Konzept ist die Anima die Frau im Manne und steht für die Eigenschaften des weiblichen Prinzips: Intuition, Gefühl, Stimmung, Ahnung, Liebesfähigkeit, Beziehung zur Natur und zu den tiefen Bereichen der Psyche (Träume, Visionen). Der Animus hingegen verkörpert den Mann in der Frau, die Eigenschaften des männlichen Prinzips: Initiative, Mut, Entschlusskraft, Tatkraft, Ratio und Distanz. Da die westliche Psychologie generell von der Betrachtung der Störung abgeleitet wurde, beziehen sich Anima und Animus vornehmlich auf Probleme – als Anima-Problematik im Mann und Animus-Problematik in der Frau. Vor allem der Einfluss der Eltern – bei der negativen Anima im Mann die Mutter und beim negativen Animus in der Frau der Vater – gilt als verantwortlich. Die negative Anima macht den Mann launisch und reizbar, der negative Animus treibt die Frau in sturen Eigensinn, Vorurteile und rechthaberische Behauptungen. Laut Jung müssen die verzerrten weiblichen bzw. männlichen Seelenanteile bewusst gemacht werden, sodass sie geheilt werden können und die Anima dem Mann als Führerin nach innen, in den Bereich des Fühlens und der Verbindung mit den Energie-Ebenen, dient und der Animus als »von der Verzauberung erlöster innerer Prinz« in der Frau die positiven männlichen Fähigkeiten entfalten kann.

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