Die christliche Mystik by Volker Leppin
Autor:Volker Leppin [Leppin, Volker]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406622809
Herausgeber: C. H. Beck
veröffentlicht: 2015-01-25T16:00:00+00:00
3. Hugo von St. Viktor
Freilich musste sich im 12. Jahrhundert mystische Theologie nicht so deutlich gegen die neuen Herausforderungen der Theologie stellen, wie sie vor allem in den Schulen der Städte gelehrt wurde. In diesem gesellschaftlichen Zusammenhang konnte nicht wie bei Bernhard die binnenmonastische Sicht der Stabilisierung der Spiritualität der Mönche allein im Vordergrund stehen, sondern die Ausbildungsfunktion am Übergang zwischen klösterlicher und bürgerlicher Welt machte es nötig, auch die weltlichen Erkenntnisse und Wissenschaften zu integrieren. Das Stift St. Viktor trug eine dieser aufstrebenden Schulen: Die Gemeinschaft von Augustiner-Chorherren hatte ihre Aufgabe im sakramentalen und auch pastoralen Dienst. Die Pariser Abtei war in der Tradition der augustinischen Klerikergemeinschaften organisiert. Im Unterschied zum klassischen benediktinischen Mönchtum, aus dem auch der Zisterzienserorden erwachsen war, waren diese Gemeinschaften nicht primär um der Askese willen entstanden, sondern stellten Zusammenschlüsse von Klerikern dar, die ohnehin durch ihren Stand auf Ehelosigkeit verpflichtet waren und durch die Augustinusregel in eine hervorgehobene Lebensgemeinschaft eingebunden waren, die ihr Leben als Kleriker sichern und stützen sollte. Ihr Ausbildungsbetrieb war damit eine konsequente Auswirkung ihrer Zuwendung zu der sie umgebenden städtischen Lebenswelt, auch wenn die Schüler selbst wiederum Kleriker waren, die sich auf die geistliche Laufbahn vorbereiteten.
Wenn sich also in St. Viktor gleichzeitig mit Bernhard auch eine Form von Mystik entwickelte, so fand diese ihren Anfang weniger in der monastischen Buße als in der schulmäßigen Erkundung der Welt, die in ihrer letzten und höchsten Stufe zu einer neuen Schau Gottes führen sollte und konnte. Hugo von St. Viktor (gest. 1141) bot einen umfassenden Entwurf der Erkenntnisformen seiner Zeit, der die schulische Erkenntnis mit der über sie hinausgehenden mystischen Erkenntnis verband. Bei ihm findet sich auch die erotische Bildsprache eines Bernhard, er hat sogar eine ganze Schrift, das «Soliloquium de arrha animae», als «Selbstgespräch über die Brautgabe der Seele» angelegt, einen literarischen Dialog zwischen einem Menschen und seiner Seele, den er Mitgliedern des Chorherrenstifts in Hamersleben (nördlich von Halberstadt) gewidmet hat. Hugo belegt in dieser ungeheuer weit – in über 300 Handschriften – verbreiteten Schrift, dass Bernhards erotisierte Mystik den Bedürfnissen der Zeit entsprach. Aber die inhaltliche Ausgestaltung seiner Mystik war – auch weil er mehr durch Augustins Liebessprache als durch die des Hohenliedes geprägt war – ganz anders als bei Bernhard, denn seine Mystik war weniger affektiv als intellektuell. Der Weg zur Liebe und zur mystischen Einigung ging bei ihm über die Vernunft, die der mystisch gesonnene Mensch zwar hinter sich lassen sollte, die er aber im Zuge seines Aufstiegs zunächst zu entfalten und zu durchdringen hatte. Betonte Bernhard, dass die Vernunft in der mystischen Schau überstiegen werden müsse, so legte umgekehrt sein Pariser Zeitgenosse Hugo Wert darauf, dass es die Vernunft war, über die der Anstieg erfolgen müsse. In deutlich erkennbarem Unterschied zu Bernhard war für ihn die Erfahrung nicht ein leitender Gegenbegriff zu einem rational orientierten Verstehenskonzept, sondern die organische Vertiefung beziehungsweise Überhöhung der für jeden erlernbaren Erkenntnis, wie sie die moderne, philosophisch geschulte Wissenschaft des 12. Jahrhunderts bieten konnte.
So, wie Bernhard im individuellen Geschehen zwischen Seele und Christus
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