Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe by Max Scharnigg

Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe by Max Scharnigg

Autor:Max Scharnigg [Scharnigg, Max]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Hoffmann und Campe Verlag
veröffentlicht: 2011-02-28T23:00:00+00:00


NEUN

M. und die Vorfälle waren wie hinter einem lichten Wandschirm verborgen. Unter der Treppe fiel es mir leicht, sie nicht zu sehen und völlig ungestört zu arbeiten. Schließlich war ich in ihrer Nähe, und es war eigentlich eher so, als hätte ich mich nur in einem Zimmer eingeschlossen, an dem sie vorbeigehen konnte. Natürlich hätte ich mich nie vor M. in einem Zimmer eingeschlossen. Wir konnten nicht mal streiten und darauf die üblichen Abstände folgen lassen, weil ich umgehend zu ihr zurückkehren musste, ausgestattet mit allen Friedensangeboten, die sie forderte.

Es waren nie viele. M. bestand auf nichts und war in allen Belangen so leicht und luftig wie ihr Schritt auf der Treppe. Zwei vor, eins zurück, dazwischen schweben. In der Zeit, als sie noch unter Menschen ging, hatte sie überall in der Mitte gestanden, ohne das je zu bemerken oder zu erkennen, dass die Menschen ihr anders begegneten als mir. Sie ging einfach, und ihre Umgebung umfloss sie wie Seide. Allen war sie mit der gleichen Freundlichkeit zugetan, die sie so sorglos und üppig verteilte, dass die meisten Menschen davon regelrecht berauscht wurden. Sie begannen in M.s Gegenwart Kapriolen zu schlagen und gerieten neben ihr in einen Zustand glücklicher Verwirrung. Es war, als würde sie jeden so sehen, wie er es sich immer schon gewünscht hatte.

Niemals leitete M. daraus ein besonderes Talent für sich ab, nie linderte diese Verbeugung der restlichen Menschheit ihre eigene Schüchternheit. Sie dachte vielmehr, die Welt um sie herum behandelte sie mit so großer Nachsicht, weil die anderen es ihr leichtmachen wollten, wie man es einem verletzten Kind leichtmachen möchte. Das brandende Entzücken nahm sie als Vorzug der anderen, dabei war es nur der matte Spiegel. Es gehörte von Anfang an zu meinem steten Bemühen, ihr glaubhaft zu machen, dass alles, was in der Welt ohne sie war, weniger Glanz hatte.

Ich hatte schon nach einigen Tagen im Hofgarten zu viel von ihrem herrlichen Überfluss gehabt, als dass ich die Lücke ihrer Abwesenheit noch selber hätte füllen können. Wenn sie nicht neben mir war, wie in der Redaktion, hatte ich sorgsam verpackte Erinnerungspakete dabei, die ich nach und nach verbrauchte wie ein Schüler das Pausenbrot. Und wie ein solcher verbrauchte ich an manchen Tagen alles auf einmal, in einem Anfall der Unersättlichkeit, den ich später büßte, wenn sich der restliche Tag unerträglich ausdehnte. Immer jedenfalls war der kleine Vorrat leer, wenn ich abends zu ihr zurückkehrte. Ich hatte nie genug.

Möglicherweise hatte ich die letzten Sätze dieser kurzen Betrachtung über M. vor mich hin gesprochen, denn Schmuskatz sah mich an, wie er es bis dahin noch nie getan hatte, mit einer anhaltenden Aufmerksamkeit, wobei er sein linkes Ohr mit der Hand in meine Richtung bog, um besser zu hören. In seinen Augen war etwas Kleines, das ich kannte: M.

Schmuskatz hatte sie schon einmal gesehen.

Falsch, ich habe sie schon oft gesehen.

Wo?

Hm … törichte Frage, hier, auf dem Gehweg hinter meinem Fenster. Aber es ist lange her, nicht wahr, dass sie dort gegangen ist.

Es war keine Frage.

Ich nickte, und weil er mich weiter mit seinem vorgewölbten Ohr ansah, während die Erinnerung an M.



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