Der Zauberberg by Thomas Mann

Der Zauberberg by Thomas Mann

Autor:Thomas Mann
Die sprache: de
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 1924-01-19T15:42:11+00:00


Noch jemand

Lange Tage, die längsten, sachlich gesprochen und mit Bezug auf die Anzahl ihrer Sonnenstunden, denn ihrer Kurzweiligkeit vermochte astronomische Ausdehnung nichts anzuhaben, weder was jeden einzelnen betraf, noch ihre einförmige Flucht. Frühlings-Nachtgleiche lag fast drei Monate zurück, Sommersonnenwende war da. Aber das natürliche Jahr bei uns hier oben folgte dem Kalender zurückhaltend: erst jetzt, erst dieser Tage war endgültig Frühling geworden, ein Frühling noch ohne alle Sommerschwere, würzig, dünnluftig und leicht, mit silbrig strahlender Himmelsbläue und kindlich kunterbunter Wiesenblüte.

Hans Castorp fand an den Hängen dieselben Blumen wieder, von denen Joachim freundlicherweise ihm einige letzte einst zur Begrüßung ins Zimmer gestellt: Schafgarbe und Glockenblumen, - ein Zeichen für ihn, daß das Jahr in sich selber lief Allein was hatte sich nun nicht alles aus demjungen, smaragdenen Grase der Schrägen und Wiesengebreite des Grundes an organischem Leben als Stern, Kelch und Glocke oder von unregelmäßigerer Gestalt, die sonnige Luft mit trockener Würze erfüllend, hervorgebildet: Pechnelken und wilde Stiefmütterchen in ganzen Massen, Gänseblümchen, Margueriten, Primeln in gelb und rot, viel schöner und größer, als Hans Castorp sie im Flachlande je erblickt zu haben meinte, soweit er dort unten darauf achtgegeben; dazu die nickenden Soldanellen mit ihren gewimperten Glöckchen, blau purpurn und rosig, eine Spezialität dieser Sphäre.

Er pflückte von all der Lieblichkeit, trug Sträuße heim, ernsten Sinnes und nicht sowohl zum Schmuck seines Zimmers, als zur streng wissenschaftlichen Bearbeitung, wie er es sich vorgesetzt. Einiges floristische Rüstzeug war angeschafft, ein Lehrbuch der allgemeinen Botanik, ein handlicher kleiner Spaten zum Ausheben der Pflanzen, ein Herbarium, eine kräftige Lupe; und damit wirtschaftete der junge Mann in seiner Loggia, sommerlich gekleidet nun wieder, in einen der Anzüge, die er damals gleich mit sich heraufgebracht, - auch dies ein Merkmal der Jahresrundung.

Frische Blumen standen in mehreren Wassergläsern auf den Möbelplatten des inneren Zimmers, auf dem Lampentischchen zur Seite seines vorzüglichen Liegestuhls. Blumen, halb welk, schon matt, aber noch in Saft, fanden sich lose auf der Balkonbrüstung, am Boden der Loggia verstreut, während andere, wohlausgebreitet, zwischen Löschpapierbogen, die ihre Feuchtigkeit tranken, der Presse von Steinen unterlagen, damit Hans Castorp die flachen Trockenpräparate mit gummierten Papierstreifen in sein Album kleben könnte. Er lag, die Knie hochgezogen, dazu noch eins über das andere geschlagen, und während der Rücken des offen umgelegten Leitfadens auf seiner Brust einen Dachfirst bildete, hielt er das dickgeschliffene Rund des Vergrößerungsglases zwischen seine einfachen blauen Augen und eine Blüte, deren Krone er teilweise mit dem Taschenmesser entfernt hatte, um besser den Fruchtboden studieren zu können, und die hinter der starken Linse zum abenteuerlich fleischigen Gebilde schwoll. Da schütteten die Staubbeutel, an der Spitze der Filamente, ihren gelben Pollen aus, vom Ovarium starrte der narbige Griffel, und legte man einen Schnitt durch ihn, so konnte man den zarten Kanal betrachten, durch den die Pollenkörner und -schlauche von zuckriger Ausscheidung in die Fruchtknotenhöhle geschwemmt wurden. Hans Castorp zählte, prüfte und verglich; er untersuchte Bau und Stellung der Kelchund Blumenblätter wie der männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane, beaufsichtigte die Übereinstimmung dessen, was er sah, mit schematischen und natürlichen Abbildungen, stellte



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