Der junge Mann by Annie Ernaux

Der junge Mann by Annie Ernaux

Autor:Annie Ernaux [Ernaux, Annie]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2023-01-15T23:00:00+00:00


Mein Körper hatte kein Alter mehr. Erst der zutiefst missbilligende Blick der Gäste am Nebentisch im Restaurant rief es mir wieder in Erinnerung. Ein Blick, der mich gerade nicht mit Scham erfüllte, sondern mich darin bestärkte, meine Beziehung zu einem Mann, der »mein Sohn hätte sein können«, nicht zu verstecken, wenn jeder Mittfünfzigjährige eine junge Frau an seiner Seite haben konnte, die offensichtlich nicht seine Tochter war, ohne Missbilligung zu erregen. Aber bei der Betrachtung des älteren Paars am Nebentisch ging mir auf, dass ich mit einem Fünfundzwanzigjährigen zusammen war, um nicht ständig das gezeichnete Gesicht eines Mannes in meinem Alter vor mir zu haben, das meines eigenen Älterwerdens. Neben A.s Gesicht war auch meins jung. Männer wissen das seit ewigen Zeiten, also sah ich nicht ein, warum ich es mir hätte versagen sollen.

Manchmal bemerkte ich, wie Frauen in meinem Alter seinen Blick einfangen wollten, die Logik dahinter, so dachte ich, war simpel: Wenn sie ihm gefällt, bevorzugt er ältere Frauen, warum also nicht auch mich? Sie kannten ihren Platz auf dem Partnermarkt, und dass eine Gleichaltrige dessen Regeln brach, machte ihnen Hoffnung und Mut. Sosehr es mich ärgerte, wenn sie versuchten, das Begehren meines Begleiters – meist sehr diskret – auf sich zu ziehen, störte mich dieses Verhalten nicht so sehr wie die Dreistigkeit, mit der jüngere Frauen in meiner Gegenwart mit ihm flirteten, als wäre eine ältere Frau an seiner Seite ein zu vernachlässigendes, sogar nicht vorhandenes Hindernis. Dabei konnte mir eine ältere Frau, wenn man es recht bedachte, gefährlicher werden als eine jüngere – schließlich hatte er eine Zwanzigjährige für mich verlassen.

Wir sahen uns Filme über Beziehungen zwischen einem jüngeren Mann und einer älteren Frau an. Hinterher waren wir enttäuscht, genervt von einem Drehbuch, in dem wir uns nicht wiederfanden, in dem die Frau um Liebe bettelte und am Ende abserviert und zerstört war. Ich hatte auch nichts mit Léa aus Chéri gemein, dem Roman von Colette, den ich noch einmal las. Für meine Gefühle in diesem Verhältnis, in dem sich Sex, Zeit und Erinnerung vermischten, gab es keine Worte. Flüchtig sah ich in A. den jungen Mann aus Pasolinis Teorema, eine Art Engel der Offenbarung.

Wie bei allen Verstößen gegen gesellschaftliche Normen fielen uns Paare, die wie wir waren, sofort auf. Wir tauschten verschwörerische Blicke mit ihnen. Wir hatten ein Bedürfnis nach Ähnlichkeit. Draußen konnte man unmöglich vergessen, dass unsere Geschichte unter dem Blick der Gesellschaft stattfand, und ich nahm das als Herausforderung an, um die Konventionen zu ändern.

Wenn ich am Strand neben ihm lag, wusste ich, dass die Leute uns beobachteten, vor allem mich, dass sie meinen Körper genau musterten, seine fortschreitende Veränderung, wie alt mag sie sein? Hätten wir unsere Handtücher getrennt voneinander im Sand ausgebreitet, hätte man uns nichts als Gleichgültigkeit entgegengebracht. Doch da wir unübersehbar ein Paar waren, nahm man sich heraus, uns ungeniert, geradezu schockiert anzustarren, als wäre diese Verbindung widernatürlich. Oder ein Mysterium. Dabei sahen die Leute nicht uns, sondern auf diffuse Weise einen Inzest.

An einem Sonntag spazierten wir in Fécamp händchenhaltend über die Mole am Meer.



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