Der 99-Tage-Kaiser by Müller Frank Lorenz
Autor:Müller, Frank Lorenz [Müller, Frank Lorenz]
Die sprache: eng
Format: epub
Herausgeber: Siedler
veröffentlicht: 2015-05-18T16:00:00+00:00
KAPITEL 5
Krankheit und Herrschaft
Die achtzehn Monate, die Friedrich Wilhelm vor seinem Tod im Juni 1888 als Kronprinz und Kaiser durchlebte, waren grauenvoll. Trotz seiner zunehmend unerträglichen physischen und psychischen Qualen wurde der Sterbende unehrlich, berechnend, ja grausam behandelt. Unter seinen Peinigern befanden sich Presseorgane, Akteure auf und hinter der politischen Bühne, Mitglieder seiner Familie und seines Haushalts und selbst die Ärzte an seinem Krankenbett. In bittere politische Machtkämpfe verstrickt und von Ehrgeiz und Eitelkeit getrieben, drangen sie in Friedrich Wilhelms Privatsphäre ein, zerstörten seine Hoffnungen, verletzten seine Würde und nutzten seine Schwäche aus.
Am 9. März 1888 brachte der Tod seines Vaters dem ewigen Thronfolger endlich die Krone. Da der sterbende neue Kaiser nicht mehr fähig war, seinen Willen geltend zu machen, waren die 99 Tage seiner Herrschaft von hinterhältigen Intrigen und dem unaufhörlichen Schachern um künftige Posten geprägt. Inmitten all dieses Elends legte Friedrich Wilhelm jedoch eine solch stoische Gefasstheit und Selbstdisziplin, eine solche Großmut an den Tag, dass er sich damit den Ehrentitel »der edle Dulder« erwarb. Seine Verzweiflung brach sich nur selten Bahn und wenn, dann lediglich seiner Frau oder engen Freunden gegenüber. »Daß ich eine so schreckliche, ekelhafte Krankheit haben muß und für Euch alle so ekelhaft und eine Last«, schluchzte Friedrich Wilhelm im November 1887 in Victorias Armen. »Warum ist der Himmel so grausam gegen mich? Was habe ich getan, um so geschlagen und verdammt zu sein?« Als sein alter Stabschef ihn im Mai 1888 besuchte, wollte sich der sterbende Kaiser nicht mehr verstellen. »Mein lieber Blumenthal«, kritzelte er auf ein Stück Papier, »es ist fast nicht mehr zu ertragen.«1
Friedrich Wilhelms letztes Lebensjahr war jedoch nicht nur von großem Leid geprägt, sondern auch von einem merkwürdigen Widerspruch. In diesen Monaten änderten sich seine Lebensumstände zum Teil von Grund auf. Vom Frühjahr 1887 an wurde sein Tagesablauf von seiner Krankheit und den Anordnungen der Ärzte bestimmt. Da der Kronprinz zwischen Juni 1887 und März 1888 nicht auf deutschem Boden weilte, übten sein körperlich immer schwächer werdender Vater und selbst Bismarck weniger Kontrolle über ihn aus als jemals zuvor. Als Friedrich Wilhelm nach Deutschland zurückkehrte, tat er dies als Kaiser und König, endlich mit der Macht und der Unabhängigkeit ausgestattet, die er und seine Gemahlin so lange ersehnt hatten. Die Themen und Konstellationen, die Friedrich Wilhelms letztes Lebensjahr bestimmten, blieben jedoch die altbekannten. Zu den Gespenstern vergangener Jahre, die jetzt als noch grellere Schreckbilder zurückkehrten, gehörten die öffentliche Feindseligkeit gegenüber seinen angeblich englandfreundlichen Tendenzen, aggressive Versuche, ihn vor den Karren parteipolitischer Programme zu spannen, der dominante Einfluss seiner Frau und Bismarcks, die politischen Ränke im Vorfeld einer unmittelbar erwarteten Thronfolge sowie die gestörten Beziehungen zu seinem Vater und zu seinem ältesten Sohn. Selbst der lästige Spuk der scheinbar endlosen Battenberg-Frage, der von der Kronprinzessin gewünschten Eheschließung zwischen ihrer Tochter Viktoria und Alexander von Battenberg, sollte einmal mehr über die politische Bühne geistern.
Friedrich Wilhelms Krankheit bewirkte, dass eben die Eigenschaft, die seine Jahrzehnte als Kronprinz gekennzeichnet hatte – seine Machtlosigkeit –, sein Dasein auch über den vermeintlichen Wendepunkt der eigenen Thronfolge hinaus prägte.
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