Das Mädchen auf der anderen Seite by Achim Freudenberg

Das Mädchen auf der anderen Seite by Achim Freudenberg

Autor:Achim Freudenberg [Freudenberg, Achim]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Thriller
ISBN: 9783644556713
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2016-01-22T00:00:00+00:00


Elf Jahre zuvor. London, im Februar 2000

35

So etwas hatte sie noch nie gesehen. Als Emily White an diesem Februarmorgen aus dem Küchenfenster in den kleinen Garten hinter ihrem Haus sah, erschrak sie. Was dort an der rostigen Teppichstange hing, jagte ihr ein kaltes Grausen die Wirbelsäule empor. Sie legte reflexartig die Hand auf ihre Brust und flüsterte nur «Oh my God».

Für einen Moment stand sie wie angewurzelt in ihrem taubenblauen Marks-&-Spencer-Morgenmantel am Fenster und betrachtete mit ihren alten, aber wachen Augen den Mann, der, so schien es zumindest, direkt zu ihr herübersah.

Als bitte er sie für das, was er getan hat, um Verzeihung.

Emily legte den Kopf schief. Sie konnte sich schon denken, wer das gewesen war. Ein kleines sanftes Lächeln umspielte ihre faltigen Mundwinkel. Dann nahm Emily ihre Hand vom Dekolleté.

Nach Jahrzehnten im Schuldienst hatte Emily White einen Blick für diese Jungs. Ob einer was taugte und es zu etwas bringen würde. Es war die Art, wie sie plötzlich begannen, Fragen zu stellen, oder ihre Antworten anders formulierten. Wie sie ihr Denken und die Richtung änderten; das machte den Unterschied. Und genau so war es jetzt bei den Sprachschülern, die Emily seit ihrer Pensionierung zu Hause unterrichtete.

Dass in dem Jungen etwas steckte, das hatte sie gleich gespürt, als er vor anderthalb Jahren das erste Mal an ihrem Küchentisch gesessen hatte. Mit seinen melancholisch braunen Augen und diesem unsteten Blick.

Schon äußerlich unterschied er sich von den anderen. Schlank, hochgeschossen, mit erstaunlich breitem Kreuz, aber schmalen Hüften und langen Armen, die fast affenartig herunterhingen. Sein Haar war dunkel und kräftig; er trug es länger, sodass es ihm ins Gesicht fiel. Sein Blick und die Aura, die er verströmte, waren voller Spannung. Als habe man ein Fass Dynamit ins Zimmer gestellt und würde mit dem Feuerzeug spielen. Und er hatte etwas, woran es den anderen schlaksigen Jungs in ihren Jeans und Sneakers mangelte: Körperspannung. Er saß kerzengerade auf seinem Stuhl.

Sein Englisch war anfangs miserabel. Hölzern. Mit schrecklicher Betonung und einem beschämend geringen Wortschatz. Aber Emily spürte, dass er lernen wollte. Er besaß einen glitzernden Ehrgeiz und verstand schnell. Er hörte zu, und er benutzte seinen Verstand. Anfangs war er sehr verschlossen und keinesfalls redselig. Er machte auffallend viel Sport, das merkte Emily wohl. Ging in eines dieser Fitnessstudios, denn sein Muskelzuwachs war beachtlich. Emily konnte förmlich zusehen, wie er sein T-Shirt mehr und mehr ausfüllte.

Es machte Emily unbändigen Spaß, ihn zu unterrichten. Er übte fleißig, erledigte seine Hausaufgaben und schwänzte nie, zahlte stets in bar, legte das Geld fast verschämt an den Rand des Tisches. Der Betrag stimmte immer. Er kam stets pünktlich zur Stunde, und sein Englisch verbesserte sich in den anderthalb Jahren auf erstaunliche Art und Weise. Aber auch er selbst veränderte sich, nicht nur körperlich. Es schien, als habe die Sprache ihm eine Tür geöffnet; er schien sich in ihr wohl zu fühlen, als sei sie ein gemütlicher Begleiter, der nun an seiner Seite ging und ihn beschützte. Er schwelgte in Worten. Fabulierte. Bildete komplexe Satzkonstruktionen und beherrschte die Zeiten und Sonderfälle aus dem Effeff.



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