Das Glueck der Familie Rougon by Emile Zola
Autor:Emile Zola [Zola, Emile]
Format: mobi
Tags: Roman
Herausgeber: TUX
veröffentlicht: 2010-02-21T23:00:00+00:00
Kapitel VI
Gegen fünf Uhr morgens traute sich Rougon endlich, das Haus seiner Mutter zu verlassen. Die Alte war auf einem Sessel eingeschlafen. Er wagte sich behutsam bis an das Ende der SaintMittreSackgasse vor. Nicht ein Laut, nicht eine Menschenseele. Er ging weiter bis zur Porte de Rome. Beide Flügel des Tores standen weit offen, und das gähnende Loch der Toröffnung ging über in das Dunkel der schlafenden Stadt. Plassans schlief wie ein Murmeltier und schien nicht zu ahnen, was für eine riesige Unvorsichtigkeit es beging, indem es so bei offenen Toren schlief. Man hätte die Stadt für ausgestorben halten können. Rougon faßte allmählich Mut und bog in die Rue de Nice ein. Von weitem hatte er ein wachsames Auge auf alle Straßenecken; er zitterte vor jeder Türnische und glaubte ständig, eine Gruppe Aufständischer zu sehen, die ihm in den Rücken fallen wollte. Doch er erreichte ohne Zwischenfall den Cours Sauvaire. Offenbar hatten sich die Aufständischen im Dunkel in Nichts aufgelöst wie ein böser Traum.
Jetzt blieb Pierre einen Augenblick auf dem verlassenen Bürgersteig stehen. Er stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung und des Triumphes aus. Die Lumpen, diese Republikaner, überließen ihm also Plassans. Zu dieser Stunde gehörte die Stadt ihm. Sie schlief wie eine Törin; dunkel und friedlich, stumm und zufrieden lag sie da, und er brauchte nur die Hand auszustrecken, um sie zu nehmen. Dieser kurze Halt, dieser Blick, den er als überlegener Mann auf den Schlaf einer ganzen Unterpräfektur warf, bereitete ihm unsagbaren Genuß. Er stand da mit verschränkten Armen und nahm, ganz allein in der Nacht, die Haltung eines großen Feldherrn am Vorabend eines Sieges an. Aus der Ferne vernahm er nur den Gesang der Springbrunnen vom Cours Sauvaire, deren Wasserstrahlen klingend in die Becken fielen.
Dann kamen ihm Bedenken. Wenn unglückseligerweise das Kaiserreich schon ohne ihn zustande gekommen wäre! Wenn die Herren Sicardot, Garçonnet und Peirotte, anstatt verhaftet und von den Aufständischen fortgeschleppt zu werden, die ganze Bande in die Gefängnisse der Stadt geworfen hätten! Kalter Schweiß brach aus seinen Poren; er setzte sich wieder in Bewegung in der Hoffnung, daß ihm Félicité einen genauen Bericht geben werde. Er ging jetzt schneller, an den Häusern der Rue de la Banne entlanghuschend, als ein merkwürdiges Schauspiel, das er beim Aufblicken bemerkte, ihn wie angewurzelt stehenbleiben ließ. Ein Fenster des gelben Salons war strahlend erleuchtet, und eine schwarze Gestalt, in der er seine Frau erkannte, beugte sich im Lichtschein heraus und fuchtelte verzweifelt mit den Armen. Er fragte sich, was geschehen sein könnte, begriff nichts und erschrak, als ein harter Gegenstand gerade vor seinen Füßen auf den Bürgersteig aufschlug. Félicité warf ihm den Schlüssel zum Schuppen zu, worin er einen Vorrat an Gewehren versteckt hielt. Dieser Schlüssel bedeutete unmißverständlich, daß man zu den Waffen greifen müsse. Er machte kehrt, ohne zu begreifen, warum ihn seine Frau daran gehindert hatte, hinaufzugehen, und stellte sich schreckliche Dinge vor.
Er ging geradeswegs zu Roudier, den er zwar außer Bett und marschbereit antraf, der aber von den nächtlichen Vorgängen gar nichts wußte. Roudier wohnte am
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