Das Buch des Wandels by Horx Matthias
Autor:Horx, Matthias
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2010-04-20T04:00:00+00:00
Das Resonanzsystem der Wahrnehmung
Warum neigen Menschen auch individuell zu Weltbildern, die gegenüber der Wirklichkeit eine ganz offensichtliche Unterkomplexität aufweisen? Warum präferieren wir Klischees, Karikaturen, Verkürzungen, Schwarzweißdenken – reduzierte Bilder der Wirklichkeit? Neurobiologie, Evolutions- und Kognitionspsychologie können uns auf diese Frage neue Antworten geben:
Erstens: Das Hirn ist dumm, weil es schlau ist. Es rationalisiert Komplexität aus ähnlichen Gründen, wie es Gefahren nach Relevanzkriterien »freischaltet«. Würde es alle Aspekte in die Abwägung einbeziehen, würde es verrückt beziehungsweise handlungsunfähig. Der Verhaltenspsychologe Gerd Gigerenzer hat mit seinem Konzept der »begrenzten Rationalität« einen damit zusammenhängenden Effekt beschrieben: Wenn wir vor Entscheidungssituationen stehen, in denen unsere Informationen nicht ausreichen können, greift unser Hirn zu »Heuristiken«. Damit bezeichnen wir die Art und Weise, in der wir mit begrenztem Wissen und wenig Zeit zu guten Lösungen kommen. In der Alltagssprache sprechen wir auch von »Bauchgefühl« oder »Instinkt«. Egal, ob es um Partnerwahl geht, Berufsentscheidungen, Rätsel des Alltags, wir sind im modernen Leben ständig mit Situationen konfrontiert, in denen unsere Anstrengungen, vollständig informiert zu sein, ins Leere laufen. Also machen wir es uns einfach. Wir entscheiden, ob wir jemanden mögen, auf den ersten Blick. Und bündeln vielschichtige Informationen unter »Gier« oder »Kapitalismus«, weil wir uns dann nicht auf komplizierte Operationen einlassen müssen.
Zweitens: Gedanken sind in Wirklichkeit getarnte Bilder. Und diese Bilder sind stark mit Gefühlen und dem Körper verknüpft. Antonio R. Damasio zeigt in »Descartes’ Irrtum«, wie unsere limbischen, rationalen und körperlichen Systeme als ineinander verwobene Schaltkreise funktionieren. »Gefühle sind ›der mentale Effekt‹ eines inneren Gewahrwerdens von Körperzuständen, deren Veränderungen ihrerseits durch bestimmte, von äußeren Reizen ausgelöste mentale Bilder verursacht sind.«3 Der Psychologe Thomas Fuchs bezeichnete in seinem neuen Buch das Gehirn als »ein Beziehungsorgan, das in ständiger Verbindung mit Nerven, Muskeln, Eingeweiden, Sinnen steht«.4
Klingt kompliziert? Vielleicht geht es so einfacher: Versuchen Sie einmal alle sinnlichen, mit Gefühlen verbundenen, körperlichen, bildlichen Aspekte aus den Sätzen »Ich werde ein Haus bauen« oder »Ich gehe einkaufen« oder »Meine Freunde kommen zu Besuch« zu eliminieren. Würden wir das schaffen, so Damasios These, bliebe vom Denken nicht einmal ein Torso übrig. Bei »Haus« entsteht vor unserem inneren Auge automatisch eine komplette Geschichte unserer Hauserfahrungen (dunkle Keller, Weihnachtsfeste, Gerüche etc.). »Einkaufen« ist immer mit Jäger-und-Sammler-Assoziationen verbunden, plus den wunderbaren Gefühlen der Üppigkeit, Sättigung, Aneignung. Unser »Denken« ist eine innere Bildersprache, in die Wünsche, Ängste, Begierden, Erfahrungen eingewebt sind. Wir sind nicht, weil wir denken. Wir denken, weil wir fühlen, wollen, leiden, hoffen …
Drittens: Wir können Zufall in keinem Fall Glauben schenken. Menschen haben eine abgrundtiefe Abneigung gegen den Gedanken des Zufalls. Denn dies hieße ja, wir hätten keinerlei Kontrolle. Deshalb ist unser Hirn eine einzige Kontingenzmaschine: Wir suchen unentwegt nach Mustern und Erklärungen. Wenn Menschen Krebs bekommen oder einen Unfall erleiden, konstruieren sie sofort einen Sinn: Der Unfall »musste geschehen, weil …« Der Krebs ist womöglich Resultat einer schlechten Lebensweise oder negativer Gedanken oder »Karma«. Sinnlosigkeit ist unerträglich, weil sie uns keine Chance von gerichteten Handlungen lässt – und das ist schließlich das, worauf der Mensch evolutionär geeicht ist.
Viertens und daraus folgend: Ideologie und kognitive Vereinfachungen binden Ängste.
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