Couragiert gegen den Strom by Sahra Wagenknecht
Autor:Sahra Wagenknecht
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Westend Verlag
veröffentlicht: 2017-08-15T16:00:00+00:00
Die linke Bewegung in Deutschland
Rötzer: Ich glaube, dass viele Linken Ihnen in den Punkten, die sie bis jetzt angesprochen haben, zustimmen würden. Aber obwohl es einen großen Konsens innerhalb der politischen Linken zu solchen Themen – insbesondere zu Fragen der sozialen Gerechtigkeit – gibt, stellt sich mir die Frage, warum man letztlich trotzdem nicht zusammenfindet, beispielsweise im Bundestag. Es gibt ja schließlich in der jetzt noch laufenden Legislaturperiode eine politische Mehrheit. Warum sind die kleinen Differenzen so wichtig?
Wagenknecht: Im Bundestag gab es auch in der jetzt endenden Wahlperiode keine linke Mehrheit, weil die SPD und die Grünen keine linken Parteien mehr sind, auch gar nicht mehr sein wollen, das ist das Problem. Denn ihre Politik, angefangen mit der gemeinsamen rot-grünen Koalition unter Schröder bis zur SPD-Politik in der jüngsten Großen Koalition, hat mit linken Ansprüchen nichts zu tun. Hier gibt es keine kleinen Differenzen, sondern einen fundamentalen Widerspruch.
Die entscheidende Frage ist: Auf wessen Seite steht eine Partei? Macht sie Politik für die Konzernfürsten, die Banker und die Rüstungslobbyisten oder für die Beschäftigten, die Rentner, die kleinen Selbständigen und die Arbeitslosen? Die SPD steht seit Gerhard Schröder auf der falschen Seite. Bei den Grünen ist es ähnlich.
Rötzer: Auf der Parteiebene mag das stimmen, aber man streitet doch seit Jahren, mittlerweile auch im Internet, innerhalb der unterschiedlichen, vermeintlich linken Gruppierungen um Deutungshoheit über den Ausdruck ›links‹.
Wagenknecht: Debatten unter dem Motto »Wer ist der Linkste?« langweilen mich und sind überflüssig. Für mich ist links, die soziale Frage zu stellen, die Verteilungsfrage. Längerfristig heißt es, sich nicht mit dem Kapitalismus abzufinden. Links ist, Partei für diejenigen zu ergreifen, die nicht zu den Gewinnern der heutigen Wirtschaftsordnung gehören, für die, die keinen großen Kapitalbesitz haben und ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Darin besteht für mich der Kern des Links-Seins: für mehr soziale Gerechtigkeit und weniger krasse Ungleichheit einzutreten.
Die Beschäftigten brauchen Regeln am Arbeitsmarkt, die sie in Verteilungskonflikten stärken, denn sie sind prinzipiell in einer schwächeren, abhängigen Position. Sie sind auf den Job angewiesen, während das Unternehmen, solange es keine echte Vollbeschäftigung gibt, immer auch jemand anderen einstellen kann. Je weniger spezielle Qualifikation eine Arbeit erfordert, desto größer ist diese Abhängigkeit. Die Agenda 2010 hat, das war ihr Kern, die Beschäftigten gegenüber dem Kapital wehrloser gemacht, denn mit Hartz IV ist der soziale Absturz bei Arbeitslosigkeit viel tiefer, als es zuvor der Fall gewesen ist. Und während ein Arbeitsloser früher nur eine der eigenen Qualifikation entsprechende Arbeit mit einem annähernd ähnlichen Gehalt, wie er es zuvor hatte, annehmen musste, ist man heute faktisch zur Annahme jeder Arbeit verpflichtet, auch von untertariflich bezahlter oder Leiharbeit.
Es sind die abhängig Beschäftigten, die einen starken Sozialstaat brauchen, der sie für ihre Lebensrisiken absichert und bei Krankheit, Jobverlust oder im Alter tatsächlich trägt. Diese Sicherungen wurden durch die Politik der letzten zwanzig Jahre immer mehr abgebaut. Wer sich an einer solchen Politik beteiligt, ist nicht links, auch wenn er vielleicht für die Homo-Ehe eintritt und für den Schutz der Privatsphäre vor staatlicher Überwachung. Das Letztere sind klassisch liberale Positionen, die richtig und wichtig sind und die auch Linke vertreten, aber sie machen nicht das Originäre linker Politik aus.
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