Afghanische Reise by Roger Willemsen

Afghanische Reise by Roger Willemsen

Autor:Roger Willemsen [Willemsen, Roger]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104025469
Herausgeber: Fischer e-books
veröffentlicht: 2015-12-19T05:00:00+00:00


Die Traumatisierung der Kinder, der Jugendlichen, bricht sich überall Bahn. Schiedsrichter werden verprügelt, das Mobiliar in der Schule wird zerstört, von scheinbar unmotivierten Gewaltausbrüchen erzählen alle, die Kontakt mit Jugendlichen haben. Vielleicht setzt das Kriegsende eine große Blase der Gewalt frei, und sie platzt nun in einer lange angestauten afghanischen Katharsis.

Nachdem wir eine Weile gesessen haben, ziehen sich die Männer in das Gästehaus zurück. Einer der Verwandten kommt vorbei und bröselt etwas klebrigen schwarzen Afghanen in die hohle Hand. Dann wandert er in die leere Papierhülse einer Filterzigarette und wird an der Spitze zusammengedreht. Ich bekomme die Zigarette zur guten Nacht, und es passiert etwas Unerwartetes.

Der Rauch ist stark und würzig, er brennt nicht im Mund, nicht in der Lunge, er hebt meinen inneren Zustand, verdichtet ihn, aber plötzlich passiert, was seit dem Kiffen meiner Schulzeit nicht mehr passiert ist: Angst materialisiert sich. Angst, die über die Straße heranrollt, durch den Hof kommt, aus den Wänden tritt, über meinem Lager zusammenschwappt. Plötzlich ist jede Angst, die sich in dieser Stadt je befunden hat, zielgerichtet und bei mir. Sie hat keine genießbare Seite und erlaubt auch kein Abschweifen. Vielmehr meint sie es ernst, als Einschüchterung, als Bedrohung.

Wenn Orte auch geronnene Erfahrung sind, wenn sie sich zusammensetzen aus allem, was je in ihnen gefühlt wurde, dann ist diese Angst eine Art Offenbarung. Kunduz gibt sich zu erkennen. In das Weichbild der Stadt haben sich Bombenabwürfe und Raketenbeschuss, Vergewaltigungen, Folter und Morde eingedrückt. Heckenschützen haben gelauert, Späher haben Häuser auf der Suche nach Versteckten durchsucht, Marodierende haben zerstört, Soldatentrupps haben Bauwerke gestürmt und verwüstet, Frauen haben geschrien, Kinder das Weite gesucht. Jede denkbare Konstellation kann sich wiederholen. Es ist alles noch zu frisch. Die Gewalt ist nicht Vergangenheit, ist nicht archaisch, nicht Kultus. Sie ist nur für ein paar Tage nicht hierher gekommen, und wir reden schon von Frieden.

Der Hof liegt finster. In der Nacht sind nur Hunde und ein paar Autos zu hören. Es ist eine andere Nacht, gesättigt von Bedrohung, eine Nacht, in der so viele wach liegen in der Angst, in der Wiederkehr des Traumas. Da ist die Angst des Soldaten vor dem Anblick der Wunde, der Moment der Auslieferung des Opfers, die Zerstörung des Bewusstseins im Schrecken.

Die Angst sitzt dicht am Lebensnerv. Sie fühlt die geographische Entfernung, die Zeit, die ich brauchen würde bis in die Arme meiner Lieben. Ich denke an sie, denke mir Landschaften. Die Angst bricht durch, Angst ohne Objekt.

Nach Stunden erst löst sich alles in einem Staunen über alles, was der Kopf kann, nicht über das, was er denkt, sondern darüber, mit welcher Intensität er Regungen körperlich werden lässt in einem innigen, unausweichlichen Gefühl, das plötzlich wirklich eine eigene Macht ist.

Jetzt zerfallen die Figuren, vervielfachen sich, werden anorganisch, zerfließen zu bloßen Strukturen oder geometrischen Mustern, die Gedanken sind plötzlich schlechter steuerbar, starrsinnig wählen sie sich eigene Zustände. Dann wird mit breitem Pinsel eine Stimmung hineingemalt, ein Rothko-Rot glüht, eine Poliakow'sche schwarze Wand erhebt sich.

Oder die Nebenlinien verflattern, wollen einzeln verfolgt werden, eine nach der anderen, aber die andere ist schon vergessen.



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