Zwanghaft by Adam David

Autor:Adam, David [Adam, David]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: dtv Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
veröffentlicht: 2015-04-21T16:00:00+00:00

10 Das unkontrollierbare Gehirn

Eine beliebte Methode, sich das Gehirn vorzustellen, ist die, eine Faust zu machen und den Daumen auszustrecken und auf den Boden zu richten, so als wäre man ein römischer Imperator, der ein Urteil über einen besiegten Gladiator fällt.11 Ihr Daumen ist nun der Hirnstamm und der Daumennagel das Ende des Rückenmarks. Ihre Finger und Ihre Hand repräsentieren den Cortex, der kleine Finger den präfrontalen Cortex. Tun Sie dasselbe jetzt noch einmal, zerdrücken Sie dabei jedoch mit Ihrem gekrümmten Zeigefinger eine Weinbeere. Die Beere symbolisiert den Sitz unserer Zwangsgedanken.

Die Beziehung zwischen Geist und Gehirn ist eine der geheimnisvollsten in der modernen Wissenschaft. Im Wesentlichen sind die Gedanken, die bei einer Zwangsstörung ein derartiges Chaos verursachen, nur elektrische und chemische Signale. Doch zu sagen, allein diese physikalischen Elemente würden den Geist definieren und begrenzen, wäre so, als würde man behaupten, die Mona Lisa sei nur ein bisschen Farbe. Es gibt einen Punkt, an dem dieser Pragmatismus etwas Größerem Platz zu machen scheint, es gibt eine Grenze, jenseits derer etwas größer ist als die Summe seiner Teile. Im Gehirn ist dies der Augenblick, in dem Chemie und Elektrizität, Muttern und Schrauben sich vereinen, um den Geist zu formen, der den Menschen das Gefühl der Bewusstheit verleiht.

Treiben wir die Trennung zwischen Gehirn und Geist zu weit, stoßen wir auf die wissenschaftlich heikle Vorstellung von einer Seele – dass der Geist isoliert von seiner physischen Basis existieren kann und vielleicht tatsächlich existiert. Weigern wir uns jedoch, die Vorstellung von einer Dualität von Geist und Gehirn anzuerkennen, kämpfen wir darum, die menschliche Erfahrung zu erklären. Dies ist ebenso sehr ein Problem der Philosophie und Metaphysik wie auch der Biologie.

Die Biologie hat einen klaren Vorteil gegenüber der Philosophie und der Metaphysik: Sie lässt sich messen. Wissenschaftler messen jedoch normalerweise entweder den Geist oder das Gehirn. Obwohl die moderne Wissenschaft über die falsche Prämisse des Dualismus spottet, verstärkt sie ihn ungewollt. Neurologen arbeiten mit Hirngewebe. Psychologen setzen sich mit den Funktionen des Geistes auseinander. Die Psychiater haben einen Fuß in beiden Lagern: Sie diagnostizieren Probleme des Geistes und behandeln sie als Probleme des Gehirns, was vielleicht der Grund dafür ist, dass die Psychiatrie manchmal von beiden Lagern mit Argwohn betrachtet wird.

Seit den Tagen von Esquirol und Freud wird die Zwangsstörung als ein Problem des Geistes gesehen. Nur dass die Zwangsstörung natürlich nicht gesehen wurde, nicht im wörtlichen Sinne. Man konnte lediglich versuchen, sich eine Vorstellung von ihr zu machen. Die moderne Technologie ermöglicht es nun jedoch, das Gehirn buchstäblich zu betrachten. Und dieser Anblick, so glauben einige Neurowissenschaftler, kann uns die physische Basis der Zwangsstörung offenbaren.

Nur ein Narr oder ein Lügner wird behaupten, er weiß, wie das Gehirn funktioniert. Während Wissenschaftler in anderen Fachbereichen die Technologie nutzen konnten, um das Atom zu spalten und die molekulare Struktur der DNA zu entschlüsseln, waren die Neurowissenschaftler noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein weitgehend auf zwei Arten von Experimenten beschränkt. Sie konnten das Gehirn eines Toten entnehmen und untersuchen oder die Wirkungen brutaler Unfälle und furchtbarer Krankheiten auf ein lebendes Gehirn beobachten.

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