Zugvögel. Erzählungen by Josef Haslinger

Autor:Josef Haslinger [Haslinger, Josef]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104032474
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2014-08-31T16:00:00+00:00

die schlacht um wien

tribute to josé emilio pacheco

kein himmel will sich erbarmen mit dem deutschen reich. sie sind fünfundzwanzig jahre alt, herr feldwebel. bei einbruch der nacht liegen die brücken im donaukanal, und die russischen panzer schweigen. sie öffnen den geburtstagssekt und winken den jungen herbei, der noch immer in stellung liegt. er trägt keine uniform, und er hat keine feldflasche. seine wolljacke ist mit einer schnur zusammengebunden. sie haben ihn am vormittag in einem keller aufgestöbert. unter einer pritsche lag er versteckt. bis er hervorkam, musste ein soldat mehrmals mit dem karabiner nachstochern. eine frau rutschte auf knien daher und klammerte sich an ihn. lassen sie ihn mir, hat sie gefleht, er ist noch zu jung.

für den führer ist niemand zu jung, hat einer geantwortet. war es der gefreite prinz? sie, herr feldwebel, haben haltung geschrien, einfach das wort haltung. da ließ sie von dem buben ab.

gute arbeit, herr schütze! er legt die panzerfaust nieder, schlägt die hacken zusammen. vielleicht ist er sechzehn jahre alt, vielleicht siebzehn. an der oberlippe hat er ein wenig flaum. sie reichen ihm einen becher. gute arbeit, herr schütze! er sagt nichts, steht da, wie angewurzelt. vielleicht ist er wirklich noch zu jung für das handwerk, denken sie. der braucht noch einen vater, der ihm den finger an den abzug drückt.

morgen holen wir uns den heldenplatz zurück, morgen werden wir der perle eine neue fassung geben, morgen schickt der führer nachschub – aber heute feiern wir geburtstag.

der junge trinkt nicht.

es ist mein geburtstag, herr schütze, ihr feldwebel hat geburtstag. verstanden?

der junge lässt plötzlich den becher fallen, läuft auf die schanze zu und springt drüber. sie, herr feldwebel, nehmen seine panzerfaust, drücken sie an die schulter. der wangenschutz hat noch die wärme des jungen, den sie im zielfernrohr auf den donaukanal zulaufen sehen. im moment des rückstoßes können sie durch seinen körper blicken, dann setzt russisches gewehrfeuer ein, und sie müssen in deckung gehen. sie fühlen sich elend. dieser idiot, denken sie. was hat der denn geglaubt? dieser blöde idiot.

wenig später ein funkspruch aus dem stabsquartier im zweiten bezirk. der leutnant verlangt einen lagebericht. sie, herr feldwebel, finden in diesem augenblick die sprache des weltgeschehens. sie sind übervoll von einem neuen gefühl, das mit dem ekel, den sie eben noch empfunden haben, nichts mehr zu tun hat. sie hören, wie die zeit ihrem stolzen soldatenmund große worte anvertraut. ein teil der wiener, sagen sie ins feldtelefon, hat seine haltung verloren.

vier tage später sind sie froh, eine bäuerin zu finden, die ihre uniform verbrennt und ihnen das stallgewand eines bauern schenkt. ihr mann gilt seit zwei jahren als vermisst, ihr ältester sohn ist noch vor einigen monaten zum volkssturm eingezogen worden.

später, als kaufmännischer direktor einer nürnberger lebkuchenfabrik, lassen sie der bäuerin jedes jahr zu weihnachten eine schachtel voll lebkuchen schicken. deren zahlreiche enkelkinder balgen sich darum. sie schreiben grußkarten und wünschen gesegnete weinachten ohne h. susanna, die älteste, sandte eines tages einen langen brief. es sei ihr gelungen, schrieb sie, den ewigen lebkuchenstreit zu beenden. jeder wollte immer die gleichen stücke haben.

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