Zorn - Vom Lieben und Sterben by Stephan Ludwig
Autor:Stephan Ludwig [Ludwig, Stephan]
Die sprache: deu
Format: mobi, epub
ISBN: 9783104020181
Herausgeber: S.Fischer Verlage
veröffentlicht: 2012-10-08T22:00:00+00:00
Neunzehn
Es war früher Abend. Die Mauern der alten Burg leuchteten im rötlichen Licht der tiefstehenden Sonne, unten auf der Brücke staute sich der Verkehr in Richtung Innenstadt. Der Fluss strömte dahin, ein schmutzigweißer Ausflugsdampfer tuckerte nach Süden, fünf, sechs Rentner hockten auf dem Sonnendeck, starrten auf die geblümten Tischdecken und rührten mürrisch in ihren Kaffeetassen. Volksmusik plärrte aus einem Lautsprecher neben der Kapitänskajüte.
Einen Kilometer stromaufwärts teilte sich der Fluss und bildete eine schattige, baumbewachsene Insel, deren Kneipen und Spielplätze im Sommer oft besucht wurden. Eine alte Stahlbrücke führte über den Fluss, am östlichen, der Stadt zugewandten Ufer befand sich eine große Wiese mit einem künstlichen, kreisrunden See, in dessen Mitte der Wasserstrahl einer Fontäne fast fünfzig Meter in den dunkelblauen Himmel emporstieg. Jogger, Radfahrer und Spaziergänger drängten sich auf einem schmalen Asphaltweg, der am Ufer entlangführte. Die Wiese war dicht bevölkert, die Menschen lagen auf Decken und dösten vor sich hin, spielten Federball, grillten oder lasen. Vom nahegelegenen Spielplatz drang Kindergeschrei herüber. Es roch nach Algen, gebratenem Fleisch und frisch gemähtem Gras.
Sie saßen im Schatten einer Trauerweide auf einer Bank am Rande des Sees. Max hatte erzählt, was in der letzten Nacht geschehen war, Eric und Martha hatten schweigend zugehört.
»Ich kapier das nicht«, sagte Martha schließlich leise. Sie hockte in der Mitte, hatte die Beine hochgezogen und den Kopf auf die Knie gestützt. »Ich dachte immer, der Pastor wär okay. Was hat der von dir gewollt?«
»Keine Ahnung«, krächzte Max. Noch immer klang er, als habe er Sandpapier zwischen den Stimmbändern. »Ich hab euch erzählt, wie’s war. Mehr weiß ich nicht.«
Martha nahm seine Hand. Ihre Finger waren warm und trocken. Er zuckte zusammen, sie schien es nicht zu bemerken. »Glaubst du wirklich, dass er dich umbringen wollte?«
»Ich wär jetzt tot, wenn dieser Zorn nicht gekommen wäre.«
»Und du hast wirklich keine Ahnung, was da passiert ist? Ich meine, wir kennen den Pastor schon ewig, wieso sollte der dich töten wollen, Max? Wieso?«
»Ich weiß es einfach nicht.«
»Krass.« Eric schüttelte den Kopf. »Das ist einfach nur krass.« Er hielt Max eine Zigarettenschachtel entgegen. Der wehrte schweigend ab. Martha griff zu, Eric gab ihr Feuer. Wortlos saßen sie da und rauchten.
Ein kleiner Junge, er konnte höchstens fünf oder sechs Jahre alt sein, kam schwankend auf einem viel zu großen Fahrrad angefahren. Er hatte Mühe, die Balance zu halten, direkt vor ihnen blieb er stehen und starrte Max mit großen Augen an. Sein T-Shirt starrte vor Schmutz, der Mund war mit Schokolade verklebt.
»Bist du krank?«
»Ja,« sagte Max, der noch immer seine Halskrause trug.
»Wie doll?«
»Sehr.«
»Bist du hingefallen?«
»Ja.«
»Hat dich jemand geschubst?«
»Ja.«
»Es reicht«, sagte Eric und trat seine Zigarette aus. »Verpiss dich, Säugling.«
Der Kleine musterte ihn von Kopf bis Fuß. Dann hob er einen dreckverkrusteten Mittelfinger. »Du bist ein Blödkopf, ich mag dich nicht.« Er brauchte mehrere Versuche, bis er wieder auf dem Rad saß, dann strampelte er schaukelnd davon. Martha sah ihm nach, wie er unsicher auf den Spielplatz einbog.
»Musste das sein, Eric?«
Ihr Bruder zuckte die Achseln.
»Der hat genervt.«
»Mich nicht«, sagte Max.
»Ist ja auch egal«, murmelte Eric, dem bereits eine neue Zigarette im Mundwinkel hing.
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