Zielgerade by Joachim Fuchsberger
Autor:Joachim Fuchsberger [Fuchsberger, Joachim]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi
Herausgeber: Gütersloher Verlagshaus
veröffentlicht: 2014-03-12T23:00:00+00:00
Mutproben
Was vergisst man, was bleibt im Unterbewusstsein vorhanden? Es ist nicht abrufbar, es braucht einen AnstoÃ, damit die Erinnerung zurückkommt. Solch ein Anstoà war zum Beispiel meine Krankheit. Sieben Monate in Krankenhäusern sind eine lange Zeit zum Nachdenken. In schlaflosen Nächten starrst du an die Decke, bist durch Tabletten in einen leichten Schumms versetzt und siehst plötzlich Bilder, ein Potpourri aus Farben, Figuren, Menschen, Gerüchen.
Ich sehe mich als sechsjährigen Steppke im Matrosenanzug auf einer Zaunecke sitzen, die Arme vor der Brust verschränkt, mit ernstem Gesicht. Ich bin Rennleiter eines Dreiradrennens um die Siedlung herum, in Wieblingen, einem kleinen Vorort von Heidelberg.
Oder meine Angst vor dem dunklen Neckarwasser in einer Badeanstalt, unterhalb vom Heidelberger Schloss. Das nasse Viereck sah bedrohlich aus, und ich konnte noch nicht schwimmen. Ein verrostetes Gitter hielt den Unrat zurück, den die Strömung hineinpresste. Ich fürchtete mich davor, in dem Gitter hängen zu bleiben.
Keine Angst hatte ich wiederum im Tunnel unter dem Heidelberger Schlossberg. Ein paar Klassenkameraden und ich dachten, dies sei der richtige Spielplatz für uns. Also gingen wir so weit in das schwarze Loch hinein, bis an beiden Enden kein Licht mehr zu sehen war.
Es war die dümmste und gefährlichste Mutprobe, die uns Lausbuben einfallen konnte. Wir stellten uns auf die Gleise und warteten auf den nächsten Zug. Er kündigte die Einfahrt in den Tunnel mit einem langen Pfiff an, der in dem dunklen Gewölbe schauerlich nachhallte.
Nach einer gewissen Zeit tauchten in der Ferne die glühenden Lampen der schnaufenden Lokomotive auf. Jetzt hieà es, Mut zu zeigen. Wer als Letzter im Schein der Lokomotivlampen von den Gleisen sprang, um sich an die verruÃte Wand zu pressen, während die Waggons vorbeidonnerten, war der »Schlossbergkönig«. Ich rieche noch den stechenden Rauch, der die Lunge reizte und schwarze Nasenlöcher machte.
Und noch ein Erinnerungsfetzen: Allein in der feudalen Villa in der Heidelberger BergstraÃe. Vaters Schreibtisch unverschlossen, in einer Schublade eine angebrochene Packung Zigaretten. Golddollar hieÃen sie, verbreiteten einen süÃlichen, verlockenden Duft. Der Zünder am Gasherd gab mir Feuer. Der weiÃe Glimmstengel schmeckte gar nicht so schlecht. Ich denke noch: »Mann, das Zeug riecht stark, ich geh besser raus auf die Terrasse hinter dem Wintergarten«, und schon höre ich Schlüssel in der Haustür. Raus auf die Terrasse, die liegt knappe drei Meter über dem gepflegten Rasen. Natürlich führt eine bequeme Treppe hinunter ins Grüne, aber ich Idiot springe und verstauche mir den FuÃ. Meine erste Zigarette! Ein halbes Jahrhundert später werde ich »Pfeifenraucher des Jahres« ...
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