Wovon ich schreibe by von Düffel John

Wovon ich schreibe by von Düffel John

Autor:von Düffel, John [von Düffel, John]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783832187996
Herausgeber: Dumont
veröffentlicht: 2015-05-19T16:00:00+00:00


II.

Über Familie als Stoff ließe sich noch unendlich viel mehr sagen, es gibt wohl kaum ein reicheres Material, kaum einen ergiebigeren Erzählgegenstand. Doch ich möchte jetzt zu einer Eigenschaft von Familie kommen, die vielleicht nicht so offenkundig ist: zur Familie als Medium, als Subjekt seiner eigenen Geschichte.

Jede Familie betreibt ihre eigene Geschichtsschreibung. Denn sie besteht nicht nur aus teilweise erschreckenden Ähnlichkeiten, Prägungen und Verhaltensmustern, die oft unbemerkt vom Einzelnen an den unmöglichsten Stellen wieder auftauchen. Sie hat auch eine eigene Stimme, und diese Stimme vernimmt man immer wieder auf den berühmt-berüchtigten runden Geburtstagen und Weihnachtsfeiern. Gerade im Hinblick auf jene Familienmitglieder, die man selbst nicht mehr kennengelernt hat, die verstorbenen Großeltern oder Urgroßeltern, bekommt man einen regelrechten Familienkanon zu hören. Gemeint ist das unentrinnbare Repertoire der Anekdoten, die durch gebetsmühlenartige Wiederholung dem Gedächtnis eingebleut werden, Anekdoten, die man irgendwann in- und auswendig kann und fast schon mitsingen möchte, wenn man nur die ersten Sätze hört. Diese Erzählungen wirken wie eine Gästefolter auf jemanden, der zu Besuch ist, haben aber tatsächlich einen tieferen Sinn. Denn es ist die Art und Weise, wie eine Familie ihre eigene Geschichte schreibt.

Ob diese zur Anekdote gewordenen Ereignisse sich tatsächlich so zugetragen haben, ist kaum mehr zu überprüfen. Es ist auch nicht entscheidend. Denn wir alle wissen, daß in dieser Art der familiären Geschichtsschreibung auch ein Moment der Lüge oder zumindest der Beugung von Wahrheit liegt, und zwar weniger aufgrund der harmlosen erzählerischen Zutaten und Ausschmückungen, die mit dem harten Kern der Anekdote irgendwann verschmelzen, es herrscht vielmehr Zensur oder zumindest eine starke Selektion bei der Auswahl dessen, was erzählt wird und was nicht. Insofern findet durch den Familienkanon eine geheime Familiengeschichtsklitterung statt. Auch in den erzählten Anekdoten selbst gibt es viele blinde Flecken, durchaus naheliegende Fragen, die oft nicht gestellt werden, weil ein unausgesprochener Familienkonsens darüber besteht, daß man an diese Fragen nicht rührt. So gesehen geht mit dem Familienreden immer auch ein Familienschweigen einher.

Dennoch ist der Einzelne darauf angewiesen, diese Anekdoten zunächst einmal auf- und anzunehmen. Sie sind das einzige, was er hat, zumindest hinsichtlich der großen Toten der Familie oder der »alten Zeiten« vor seiner Geburt. Meist versucht man erst viel später im Leben herauszufinden, welche dieser Geschichten, die fraglos immer weitergereicht werden und gewissermaßen eine orale Familientradition darstellen, überhaupt wahr sind. Was war wirklich so, was nicht?

Die Art und Weise der Familienlegendenbildung läßt sich – wie so vieles – am Modell der »Buddenbrooks« mustergültig ablesen. Wenn man sich anschaut, wie bei den Buddenbrooks Familiengeschichte überliefert wird, ist das erste und Auffälligste das große Familienbuch im Schreibtisch des Konsuls. Es markiert gewissermaßen den Beginn und die Vorgeschichte des Romans und dient als Referenzpunkt bei allen Wendepunkten der Geschichte: bei Tony Buddenbrooks Verlobung, bei sämtlichen Hochzeiten und Todesfällen wie auch bei Hannos kindlicher Resignation kurz vor Schluß, der unter seinem eigenen Namen einen Doppelstrich zieht mit der Begründung: »Ich dachte, es käme nichts mehr.« In diesem Buch ist der Stammbaum der Buddenbrooks verzeichnet sowie eine kleine Chronik des Werdegangs sämtlicher Familienmitglieder vom Firmengründer Johann Buddenbrook bis hin zu seinen letzten Nachkommen.



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