Wolf's Hour - Die Verwandlung by Robert McCammon

Wolf's Hour - Die Verwandlung by Robert McCammon

Autor:Robert McCammon
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: FESTA Horror & Thriller
Herausgeber: Festa Verlag
veröffentlicht: 2016-05-22T16:00:00+00:00


3

»Komm mit«, sagte Wiktor an einem Morgen im späten September, und Mikhail folgte ihm in seinem Schatten. Sie ließen die Räume des Sonnenscheins hinter sich zurück und gingen hinunter an einen Ort im weißen Palast, wo die Luft kalt war. Der Junge zog den Fellmantel, den Renati für ihn gemacht hatte, enger um die Schultern, als er und Wiktor immer tiefer hinabstiegen. Mikhail hatte in den letzten Wochen festgestellt, dass seine Augen sich schnell an die Dunkelheit gewöhnten, und im hellen Tageslicht konnte er mit messerscharfer Deutlichkeit sehen, ja selbst die roten Blätter eines Eichenbaumes konnte er aus 100 Metern Entfernung zählen. Aber offenbar gab es etwas, das Wiktor dem Jungen zeigen wollte, hier unten in der Dunkelheit. Der Mann blieb kurz stehen, um eine Fackel aus Wildschweinfett und Lumpen an einem kleinen Feuer anzuzünden, das er vorher schon angefacht hatte. Die Fackel flackerte, und beim Geruch des brennenden Fettes lief Mikhail das Wasser im Mund zusammen.

Sie stiegen in einen Bereich hinab, in dem die Wandgemälde von Mönchen mit langen Roben und Kapuzen noch ihre Farben behalten hatten. Ein schmaler Durchgang führte unter einem Bogen hindurch, an offenen Eisentoren vorbei und in einen riesigen Raum hinein. Mikhail schaute nach oben, konnte die Decke aber nicht sehen. »Das ist es«, sagte Wiktor. »Bleib stehen, wo du bist.« Mikhail gehorchte, und Wiktor ging in dem Raum umher. Das Fackellicht fiel auf Steinregale voll mit Hunderten von dicken, ledergebundenen Büchern. Nein, mehr als nur Hunderte, erkannte Mikhail. Die Bücher füllten jeden freien Platz aus und lagen in Stapeln auf dem Boden.

»Das«, sagte Wiktor ruhig, »ist das, woran die Mönche, die hier vor 100 Jahren lebten, gearbeitet haben: Sie haben Manuskripte kopiert und archiviert. Hier drin befinden sich 3439 Bücher.« Er sagte es voller Stolz, als rede er über Lieblingskinder. »Theologie, Geschichte, Architektur, Technik, Mathematik, Sprachen, Philosophie – alles gibt es hier.« Er schwenkte die Fackel im Halbkreis und lächelte verhalten. »Die Mönche, wie du sehen kannst, hatten nicht viel gesellschaftlichen Kontakt. Zeig mir deine Hände.«

»Meine … Hände?«

»Ja. Du weißt schon. Die beiden Dinger an den Enden deiner Arme. Zeig sie mir.«

Mikhail hob die Hände und hielt sie ins Fackellicht.

Wiktor betrachtete sie. Er brummte und nickte. »Du hast die Hände eines Studenten«, sagte er. »Du hast ein privilegiertes Leben gelebt, nicht wahr?«

Mikhail zuckte verständnislos mit den Achseln.

»Man hat dich gut umsorgt«, erklärte Wiktor. »Bist in eine aristokratische Familie hineingeboren worden.« Er hatte die Kleider gesehen, die Mikhails Mutter, Vater und Schwester getragen hatten, allesamt von guter Qualität. Jetzt dienten sie als Stofffetzen für Fackeln. Er hielt seine schlankfingrige Hand hoch und drehte sie im Licht. »Ich war Professor an der Universität von Kiew, vor langer Zeit«, sagte er. In seiner Stimme war keine Wehmut, nur Erinnerung. »Ich habe Sprachen gelehrt: Deutsch, Englisch und Französisch.« Ein harter Ausdruck trat in seine Augen. »Ich habe in drei verschiedenen Sprachen gelernt, um Geld zu betteln, damit ich meine Frau und meinen Sohn ernähren konnte. In Russland genießt der menschliche Verstand keine besonders hohe Wertschätzung.«

Wiktor ging weiter und beleuchtete mit der Fackel die Bücher.



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