Wittgensteins Neffe by Thomas Bernhard

Wittgensteins Neffe by Thomas Bernhard

Autor:Thomas Bernhard [Bernhard, Thomas]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2012-12-14T23:00:00+00:00


In dem angenehmen sogenannten Halbschatten, unter der wunderbaren Kühlung aus dem Fluß herauf, entwickelten wir aufeinmal wieder solche Gespräche wie früher, und es war jetzt naturgemäß und ganz seiner Entwicklung entsprechend nicht mehr die große Oper gewesen, die ihn beschäftigte, sondern die sogenannte Kammermusik. Er hatte sich auch geistig aus den großen Opernhäusern zurückgezogen. Er redete nicht mehr über Schaljapin und Gobbi, über Di Stefano und die Simionato, sondern über Thibaud und Casals und ihre Kunst. Über das Juilliard- und über das Amadeus-Quartett und das von ihm geliebte Trio di Trieste. Wie es Arturo Benedetti Michelangeli macht im Gegensatz zu Pollini, Rubinstein im Gegensatz zu Arrau und Horowitz etcetera. Er war jetzt, wie gesagt wird, vom Tod gezeichnet. Ich habe ihn über zehn Jahre gekannt und in dieser Zeit war er immer schon todkrank gewesen und vom Tod gezeichnet. Auf dem Wilhelminenberg hatten wir, wie gesagt, wortlos unsere Freundschaft für immer besiegelt, auf jener Bank, auf welcher er nur grotesk, grotesk gesagt hatte. Es war jetzt schon schwierig, sich vorzustellen, daß er dreizehn und vierzehn Jahre vorher einer Geliebten, die Amerikanerin und Sopranistin gewesen war und die in fast allen großen Opernhäusern der Welt die Königin der Nacht und die Zerbinetta gesungen hat, genau um diese ganze Welt nachgereist ist, um sie schließlich doch aufgeben zu müssen, um dann nurmehr noch von ihr zu träumen. Es war unvorstellbar, daß er in dieser doch gar nicht so lange zurückliegenden Zeit die berühmtesten Autorennplätze Europas aufgesucht hat und selbst Autorennen gefahren ist, daß er einer der besten Segler gewesen ist. Es war jetzt schon unvorstellbar, daß er jahrzehntelang keine Nacht vor drei oder vier Uhr früh ins Bett gekommen ist, weil er sich den Großteil aller Nächte in den berühmtesten Bars Europas aufgehalten hat. Daß er schließlich einmal Eintänzer gewesen ist gegen alle Regeln der Wittgensteinschen Grundsätze. Daß er jener gewesen sein solle, der in den besten Hotels des alten und auch noch des neuen Europa tatsächlich als ein Herr aus- und eingegangen ist. Und es war jetzt auch schon unvorstellbar, daß er jener gewesen ist, der jahrzehntelang der Wiener Oper die höchsten Höhepunkte wie die tiefsten Tiefpunkte gebrüllt und gepfiffen hat. Alles, das er erlebt hat, war in dieser traurigen Zeit seiner letzten Jahre bereits unvorstellbar gewesen. Er saß mit mir in Nathal an der Hofmauer und rechnete sich in der untergehenden Sonne aus, wie oft er in Paris, wie oft er in London und in Rom gewesen war, wieviele Tausende Flaschen Champagner er getrunken, wieviele Frauen er verführt und wieviele Bücher er wohl gelesen habe. Denn diese wie man sieht, oberflächliche Existenz, hatte durchaus kein oberflächlicher Mensch geführt, im Gegenteil. Es gab kaum einen Punkt, in welchem es ihm auch nur die geringsten Schwierigkeiten gemacht hatte, mitund weiterzudenken, ganz im Gegenteil, war er es oft gewesen, der mich in Verlegenheit gebracht hatte gerade auf jenen Gebieten, die eigentlich die meinigen sind und von welchen ich überzeugt gewesen war, daß ich in ihnen zuhause bin; er belehrte mich oft eines besseren.



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