Wittgenstein und Heidegger: Die letzten Philosophen (German Edition) by Manfred Geier
Autor:Manfred Geier [Geier, Manfred]
Die sprache: deu
Format: mobi
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2017-02-16T16:00:00+00:00
Ethik ohne Philosophie – Philosophie ohne Ethik
Man könnte es so sagen: Das Wunderbare ist, daß das Tote nicht sündigen kann. Und das Lebende zwar sündigen kann, aber auch der Sünde entsagen: Ich kann nur in soweit schlecht sein, als ich auch gut sein kann. [1]
Ludwig Wittgenstein
Sofern die Rede von einem «guten» Gewissen der Gewissenserfahrung des alltäglichen Daseins entspringt, verrät dieses damit nur, daß es, auch wenn es vom «schlechten» Gewissen spricht, das Phänomen im Grunde nicht trifft. [2]
Martin Heidegger
Als Wittgenstein am Montag, den 30. Dezember 1929, Moritz Schlick zu Hause besuchte, um mit ihm und Friedrich Waismann über logische Form und reelle Zahlen zu reden, war das Gespräch auch auf Heidegger gekommen. Dabei war es nicht der Fundamentalontologe des Seins, der Wittgenstein interessierte, sondern der Ethiker. Als solchen nämlich sah ihn Wittgenstein. Deshalb konnte er in einer einzigen gedanklichen Bewegung das «Sein» Heideggers mit dessen «Angst» verbinden, auf das existenzielle Staunen hinweisen, dass es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr Nichts, und an Kierkegaard und Augustinus erinnern, die sich nicht gescheut hatten, über das Göttliche und das Gute Unsinn zu reden. Als gemeinsamen Nenner glaubte Wittgenstein das Anrennen gegen die Grenze der Sprache erkannt zu haben, das er als «Ethik » identifizierte.
Bereits im Tractatus logico-philosophicus hatte er festgestellt, dass das Ethische, das ihm absolut wichtig war, dadurch «bedeutet» werden könnte, indem er als Philosoph darüber schwieg. Es war eine Ethik ohne Philosophie, [3] die Wittgenstein charakterisierte und auch sein Verständnis dessen lenkte, was Heidegger «mit Sein und Angst meint». Er konnte die Spuren entziffern, die Kierkegaards subjektive, existenzielle Religiosität und Augustinus’ Bekenntnisse über das Leben als eine ständige Versuchung in Heideggers Sein und Zeit hinterlassen hatten. Er wird aufmerksam auf den Ton «gelauscht» haben, mit dem Heidegger das Seiende der bestehenden Welttatsachen überstiegen hatte, um das Sein des menschlichen Daseins in seiner Existenzialität interpretieren zu können. Und es wird Wittgenstein auch angesprochen haben, dass Heidegger von der Sorge des Menschen geschrieben hatte, von der schmerzhaft empfundenen Nichtigkeit des Daseins, vom Rufcharakter des Gewissens und dem unvermeidbaren Schuldigwerden des Menschen, der niemals so sein kann, wie er es für sich entworfen hat. [4]
In ethischer Hinsicht schien es zahlreiche Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen zwischen Heidegger und Wittgenstein gegeben zu haben. Doch sie waren nur oberflächlich und verdeckten die tiefgehenden Unterschiede. Was sich auf den ersten Blick als engste Nähe zwischen Heidegger und Wittgenstein zeigt, offenbart sich bei genauerem Hinsehen als ihre größte Distanz.
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