Wissenschaftstheorie by Tetens Holm

Wissenschaftstheorie by Tetens Holm

Autor:Tetens, Holm
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406653322
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2014-12-16T00:00:00+00:00


12. Wissenschaftlicher Fortschritt

Die Geschichte der Wissenschaften ist seit dem Ende des 16. Jahrhunderts eine einzige Erfolgsgeschichte.

• Das Tatsachenwissen über alle Wirklichkeitsausschnitte, mit denen es die Wissenschaften zu tun haben, wächst, und schon lange wächst es exponentiell. Noch nie wusste die Menschheit so viel wie gegenwärtig, und diese Wissensexplosion verdankt sich einer menschheitsgeschichtlich betrachtet lächerlich kurzen Zeitspanne von gerade einmal 400 Jahren. An dieser Wissensexplosion sind Natur-, Ingenieur-, Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften gleichermaßen beteiligt.

• Auch vermögen die Wissenschaften die Tatsachen immer dichter auf eine empirisch adäquate Weise inferentiell zu vernetzen. Immer mehr, oftmals verblüffende Zusammenhänge zwischen Tatsachen in der Welt werden sichtbar und lassen sich erklären und zum Teil voraussagen.

• Und beides, das Anwachsen des Tatsachenwissens und seine dichter werdende inferentielle Vernetzung geht einher mit einem immer perfekteren experimentellen und technischen Know-how, das sich der experimentellen Methode und der durch sie ermöglichten technischen Anwendung wissenschaftlicher Forschungsresultate verdankt. In der wissenschaftlich angeleiteten Technik feiern die Wissenschaften einen Triumph nach dem anderen.

Ohne Zweifel ist diese beeindruckende Erfolgsbilanz hart erkämpft. Wissenschaftliches Wissen erwerben wir keineswegs mit leichter Hand. Wer immer sich daran begibt, für einen Wirklichkeitsausschnitt eine Theorie aufzustellen, hat ununterbrochen mit Problemen zu kämpfen, die sich oft einer adäquaten Lösung über längere Zeit hartnäckig widersetzen. Ganz allgemein lassen sich die Probleme, mit denen sich Forscher in ihrem Forschungsalltag plagen müssen, vierfach klassifizieren:

• Man stößt auf neue Beobachtungsdaten. Doch zunächst ist unklar und ungelöst, ob und wie sie sich mit den bisher akzeptierten Theorien verstehen und erklären lassen.

• Die Theorie impliziert Beobachtungsdaten, die sich durch Beobachtung nicht bewahrheiten, sodass Beobachtungsdaten und Theorie sich widersprechen.

• Eine Theorie erweist sich intern als widersprüchlich.

• Verschiedene Theorien widersprechen sich untereinander.

Man trifft nur auf empirische Theorien, für die mindestens eines der genannten Probleme bis dahin noch ungelöst ist. Keine Theorie ist perfekt. Um der noch ungelösten Probleme Herr zu werden, muss daher jeder Forscher darauf vorbereitet sein, die bisher von ihm akzeptierten Theorien mehr oder weniger einschneidend zu modifizieren oder sogar durch neue Theorien zu ersetzen. Von ihrem grundlegenden Aufbau her lässt sich eine Theorie in drei Hinsichten abändern:

• Man kann den bisherigen Wirklichkeitsausschnitt einer Theorie durch einen anders festgelegten Wirklichkeitsausschnitt ersetzen.[56]

• Man schreibt dem Wirklichkeitsausschnitt einer Theorie eine andere als die ihm bisher zugeschriebene Struktur zu.[57]

• Man revidiert Behauptungen über wichtige einzelne Beobachtungsdaten.

So vollzieht sich die wissenschaftliche Forschung als eine Abfolge T1 T2 … Tn … von Theorien. Verbunden sind die Theorien vor allem durch Probleme. In einer Nachfolgetheorie Theorie Ti+1 sind gewisse Probleme der Vorgängertheorie Ti gelöst. Wie die Wissenschaftsgeschichte eindrücklich lehrt, darf man sich allerdings den wissenschaftlichen Fortschritt nicht allzu geradlinig und zielstrebig vorstellen. Es passiert durchaus öfters, dass eine Nachfolgetheorie zwar gewisse Probleme der Vorgängertheorie aus dem Wege räumt, und doch in ihr Probleme wiederkehren, mit denen die Vorgängertheorie schon besser fertig geworden war. Rückschritte und Fortschritte können in der Wissenschaft dicht beieinander liegen. Im Detail verläuft die Forschung holprig, mit Umwegen, mit Rückschlägen und von daher durchaus mühsam.[58] Und doch, unterm Strich resultiert aus der fortlaufenden Lösung immer neuer und manchmal auch alter Probleme der wissenschaftliche Fortschritt, der so sehr ins Auge sticht.



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