Wirkfaktoren der psychoanalytischen Behandlung by Erich Fromm

Wirkfaktoren der psychoanalytischen Behandlung by Erich Fromm

Autor:Erich Fromm [Fromm, Erich]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fachbuch
ISBN: 978-3-95912-093-7
Herausgeber: Edition Erich Fromm
veröffentlicht: 2015-11-21T16:00:00+00:00


3. Konstitutionelle und andere Wirkfaktoren

Unter den weiteren günstigen und ungünstigen Wirkfaktoren für die Therapie sind an erster Stelle die konstitutionellen zu nennen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass meines Erachtens die konstitutionellen Wirkfaktoren viel wichtiger zu nehmen sind. Hätte ich vor 30 Jahren über konstitutionelle Wirkfaktoren das gehört, was ich jetzt gleich darüber ausführen werde, dann hätte ich mich sehr darüber entrüstet. Ich hätte wohl von einer reaktionären oder faschistischen Art von Pessimismus gesprochen, der keinerlei Veränderung zulasse. Im Laufe meiner psychoanalytischen Arbeit kam ich aber auf Grund meiner eigenen Erfahrung (und nicht auf Grund theoretischer Überlegungen, zumal ich kaum etwas über Vererbung weiß) immer mehr zu der Überzeugung, dass die Annahme einfach nicht wahr ist, dass die Schwere der Neurose proportional zu der Schwere der traumatischen und der umwelthaften Umstände ist.

Wenn man bei homosexuellen Patienten herausfinden kann, dass sie eine sehr strenge Mutter und einen sehr schwachen Vater hatten, dann lässt sich damit eine Theorie bilden, die die Homosexualität erklärt. Allerdings hat man außerdem noch zehn andere Patienten, die einen ebenso schwachen Vater und eine gleichfalls strenge Mutter hatten, aber nicht homosexuell wurden. Wir haben also ähnliche Umweltfaktoren, und doch ganz verschiedene Auswirkungen. Eben deshalb glaube ich, dass man – abgesehen von den oben angesprochenen Fällen, in denen man außerordentlich traumatische Faktoren ausfindig machen kann – die Entwicklung zu einer neurotischen Erkrankung nie wird wirklich verstehen können, wenn man nicht konstitutionelle Faktoren in die Überlegungen mit einbezieht. Es kann sein, dass diese so stark sind, dass sie allein ausschlaggebend sind; es kann aber auch sein, dass die konstitutionellen Faktoren erst in Verbindung mit bestimmten Bedingungen ihre Wirkung zeigen. Bestimmte konstitutionelle Faktoren lassen Umweltfaktoren traumatisch werden, andere zeigen diese Wirkung nicht.

Im Unterschied zu Freud, für den konstitutionelle Faktoren entsprechend der Libidotheorie im wesentlichen triebhafte Faktoren sind, verstehe ich konstitutionelle Faktoren viel umfassender. Ohne dies hier im einzelnen ausführen zu können, gehören zu diesen für mich nicht nur das, was man gewöhnlich „Temperament“ nennt, sei es im Sinne der griechischen Lehre von den Temperamenten, oder sei es im Sinne der Sheldon-Typen [vgl. W. H. Sheldon, 1942], [XII-252] sondern auch Faktoren wie die Vitalität, die Liebe zum Leben, der Mut und anderes. Ein Mensch wird auf Grund seines Chromosomensatzes bereits als ein klar definiertes Wesen empfangen. Die Frage ist dann, was das Leben diesem bereits bei der Geburt besonders ausgezeichneten Menschen zufügt. Für einen Psychoanalytiker ist es eine gute Übung, sich folgendes zu überlegen: Wie wäre dieser Mensch, wenn seine Lebensumstände dem Wesen, als das er empfangen wurde, förderlich gewesen wären? Und was sind die besonderen Entstellungen und Schädigungen, die das Leben und die Umstände diesem Menschen zugefügt haben?

Zu den günstigen konstitutionellen Faktoren gehört das Ausmaß der Vitalität, insbesondere das Ausmaß der Liebe zum Leben. Jemand kann an einer ziemlich schweren Neurose leiden mit einem beträchtlichen Maß an Narzissmus, ja sogar mit einem Gutteil an inzestuöser Fixierung. Es ist meine persönliche Überzeugung, dass das Bild völlig anders aussieht, wenn diesem Menschen die Liebe zum Leben zu eigen ist. Als Beispiele möchte ich Roosevelt und Hitler nehmen.



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