Wir sind unser Gehirn by Dick Swaab

Autor:Dick Swaab [Swaab, Dick]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neurologie, Neurowissenschaft, Neurobiologie
ISBN: 9783426785133
Google: RkltAgAAQBAJ
Amazon: 3426785137
Herausgeber: Droemer eBook
veröffentlicht: 2013-10-16T20:00:00+00:00

XI.5 Andere Halluzinationen

Wenn wir bedenken, dass wir alle verrückt sind, schwinden die Mysterien, und das Leben ist erklärt.

MARK TWAIN (1835–1910)

Delirium

Halluzinationen kommen gewiss nicht nur bei Schizophrenie vor. Am häufigsten entstehen sie im Delirium. In den Niederlanden fallen etwa 100000 Patienten pro Jahr ins Delirium. Meistens sind es ältere Menschen, die wegen einer Operation, zum Beispiel wegen eines Hüftbruchs, eine Narkose bekommen. Das ist logisch, denn für ein altes Gehirn ist eine Narkose eine beinahe tödliche Vergiftung. Auf der Intensivstation erleiden sogar bis zu 80 Prozent der Patienten ein Delirium. Nicht umsonst wird das Delirium auch als »Everyone’s Psychosis« bezeichnet. Ein Delirium kann auch auftreten, wenn die Hirnfunktion wegen einer Lungenentzündung, einer Austrocknung, aufgrund bestimmter Medikamente, Drogen oder Unterernährung in Mitleidenschaft gezogen wird. Bei älteren Menschen kann schon eine einfache Blasenentzündung zum Delirium führen. Bekannt ist auch das Delirium tremens, zu dem es nicht nur bei einer Alkoholvergiftung, sondern auch infolge eines Alkoholentzugs kommen kann. Ein Delirium kann zudem auch bei einer Hirnschädigung, bei Sauerstoffmangel, zu niedrigem Blutzuckergehalt oder bei einem Hirnschlag entstehen.

Patienten im Delirium sind akut verwirrt und oft unruhig, sie leiden unter Gedächtnisstörungen, sie haben Wutanfälle, werden laut und sind hyperaktiv. Daher fallen sie häufiger aus dem Bett, wobei sie sich manchmal etwas brechen, was ihre Lage noch weiter verschlimmert. Aber es gibt auch eine ruhige Form oder Phase des Deliriums, in der die Patienten nur apathisch im Bett liegen und vor sich hin starren. Ihr Bewusstsein ist gestört, sie wissen nicht, wo sie sind, und manchmal nicht einmal, wer sie sind. Sie können nicht klar denken und haben kein Konzentrationsvermögen. Ihr Zustand kann daher Ähnlichkeiten mit einer Demenz haben. Allerdings tritt ein Delirium plötzlich ein, eine Demenz dagegen meistens allmählich. Patienten im Delirium können halluzinieren und sehen zum Beispiel überall kleine Tiere. Zuweilen will ein Patient nicht essen oder trinken, weil angeblich auf den Nahrungsmitteln Ameisen sitzen. Ein anderer Patient sah Käfer, die aus der Decke krochen. Fieberkranke Kinder sahen Kobolde unter dem Bett. Die Halluzinationen und Wahnvorstellungen sind oft von beängstigenden Erinnerungen geprägt. Ein Patient glaubte während des Deliriums, er müsse wieder ins Konzentrationslager und die Ärzte und Pfleger seien die Schergen, die ihn abholten. Natürlich versuchte er zu entkommen, er zog sich die Infusionsnadel aus dem Arm und entfernte danach seine Nährsonde, wodurch die Gefahr bestand, dass Nährflüssigkeit in die Lunge laufen und eine verheerende Lungenentzündung herbeiführen könnte. Eine Frau dachte, sie sei im Krankenhaus festgebunden und vergewaltigt worden. Ein alter Freund von mir glaubte nicht, dass er seine Operation bereits hinter sich hatte, und stellte den Arzt zur Rede, weil dieser ihn angeblich mitten in der Nacht aufgesucht hatte. Mein Freund warf dem Arzt vor, er hätte ihm in dieser Nacht keine ordentliche Antwort auf die Frage nach seinen Blutwerten gegeben. Er sei, so dachte er, deshalb selbst ins Labor gegangen, um die Resultate, die ihm der Arzt vorenthalten hatte, persönlich abzuholen. Der Arzt war ihm jedoch nur in einer Halluzination erschienen, und zum Glück hatte mein Freund sein Bett im wirklichen Leben gar nicht verlassen.

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