Wiener Wunder by Franzobel
Autor:Franzobel
Die sprache: deu
Format: azw3, epub, mobi
ISBN: 9783552057050
Herausgeber: Paul Zsolnay Verlag Wien 2014
veröffentlicht: 2014-06-23T22:00:00+00:00
NACHTWASSER oder
DER EINBRUCH DER DUNKELHEIT
BEI NACHT
Der Dopingfahnder ging in die Kocherscheit-Wohnung, und Groschen trippelte das Stiegenhaus hinunter. Es war 21 Uhr und nieselte noch immer, ein erbärmliches Wetter. Kein Wunder, dass die meisten Menschen schlechter Stimmung waren. Der Kommissar überlegte, ob er in ein Taxi steigen sollte, als er sie bemerkte, ohne ihr Bedeutung beizumessen. Eine kleine kugelrunde Frau mit unerhört großen eckigen Brillen. Sie trug einen hellen Regenmantel und schleppte sich auf Krücken vorwärts. Behäbig wie eine zweihundertjährige Schildkröte. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor, aber Groschen wusste nicht, woher. War das die Stimme aus der Gegensprechanlage, die »Verschwind!« gekrächzt hatte? Das goldene Wienerherz?
Er sah ihre schwarzen Kunstledersandalen und weißen Socken. Das Gesicht war grau wie ein vergessener Brotteig und der Blick erloschen. Der Kommissar war von diesem Anblick ebenso abgestoßen wie fasziniert. In seinem Inneren zog sich was zusammen. Er überlegte, ob er ihr Hilfe anbieten sollte, aber da wurde er von hinten gerempelt, beinahe weggeschoben mit einer Bestimmtheit, wie er es sonst nur von Diven und Möchtegernprominenten kannte, wenn sie sich vor Fotografen aufpflanzten und alle anderen, vor allem alle Unbekannten, aus dem Bild schubsten. Es war der unfreundliche rothaarige Mieter, den er bereits kannte. Ohne ein Wort der Entschuldigung eilte er leicht hinkend zu der Schildkröte, fasste sie unter der Achsel und half ihr zur Tür. Für den empörten Kriminalkommissar hatte er nur einen bösen Blick übrig. Das also waren die anderen Mieter, die sogenannten kleinen Leute, für deren Sicherheit der Kommissar täglich Kopf und Kragen riskierte?
Groschen schenkte diesem seltsamen Gespann keine weitere Beachtung, ging die Schräge zur Wienzeile hinauf, überquerte sie und ging in Richtung Innenstadt. Kurz vor dem Naschmarkt rief er seine Frau an und fragte, ob sie mit ihm essen gehen wolle.
– Essen? Jetzt noch? Ich wollte den Pullover fertig stricken.
– Muss das heute sein?
– Aber ich bin überhaupt nicht hergerichtet. Ich bin …
– Lass dir Zeit.
– Wo willst du hingehen?
– Wolltest du nicht immer in die Schiffstation?
– Wunderbar. Frau Groschens Stimme überschlug sich kurz vor Glück. Vom Restaurant in der Schiffstation hatte sie schon viel gehört, es war gerade sehr gefragt. Alle ihre Freundinnen hatten davon geschwärmt.
– Ich bin im sechsten Bezirk, bis ich am Donaukanal bin, kannst du dich zurechtmachen.
– Und du wirst nicht wieder nach der Vorspeise zu einem Tatort eilen und mich sitzenlassen? Nein? Und du wirst auch nicht wieder den ganzen Abend telefonieren? Und du wirst auch nicht mit den Ohren nur bei einem Nachbartisch sein, weil dort irgendein Verdächtiger sitzt?
– Bis später.
Der Kommissar ging auf den Vorwurf seiner Frau nicht ein. Dabei hatte sie vollkommen recht. Der einzige Grund, um mit ihr auszugehen, war, die Zeit zu überbrücken. Groschen war angenehm aufgeregt, rechnete er doch fest damit, dass sich der Mörder heute Nacht verriet. Er spürte, jemand wurde unruhig, jemand, der für den Tod des Edgar Wenninger verantwortlich war, bekam allmählich kalte Füße. Jemand spürte, man war ihm auf den Fersen, jemand spürte den Atem der Polizei, und das machte ihn unsicher und anfällig für Fehler. Stanek, Marion, Schmierer, Tulipan und Hallux, sie alle wurden überwacht.
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