Wie gerecht ist der Markt by Kersting
Autor:Kersting
Die sprache: de
Format: mobi
veröffentlicht: 2012-02-26T08:18:09+00:00
1. Kooperationsgemeinschaft und Solidaritätsgemeinschaft
Die Geschichte der Gerechtigkeit ist so alt wie die Geschichte der Ãkonomie. Beide haben dort angefangen, wo alle menschlichen Geschichten angefangen haben: mit der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies.
Seit dieser Zeit nämlich steht menschliches Leben unter einem unerbittlichen Regiment der Knappheit. Nichts ist im Ãberfluss vorhanden. Alles ist knapp: Nicht nur die äuÃeren Güter sind knapp, auch die Güter des Leibes und der Seele und die des Verstandes erst recht. Auch das Leben selbst ist knapp. Ehâ man sichâs versieht, istâs zu Ende. Wir haben wirklich nicht allzu viel davon und hätten schon gern mehr. Knappheit bereitet Not; und Not macht erfinderisch. Aus der Menge der Erfindungen, die die Menschen gemacht haben, um die Last der Knappheit zu mindern, ragen zwei heraus: Da ist einmal die gesellschaftliche Kooperation; und da ist zum anderen die gesellschaftliche Solidarität.
Unter einer Kooperationsgemeinschaft versteht man ein allseits nützliches System der Arbeitsteilung und gesellschaftlichen Zusammenarbeit zu wechselseitigem Vorteil, das gleichermaÃen geprägt ist durch Interessenidentität und Interessenkonflikte. Durch Interessenidentität, weil alle die gesellschaftliche Zusammenarbeit wollen, denn sie ist für jedermann von Vorteil. Durch Interessenkonflikte, weil es den Menschen keinesfalls gleichgültig ist, wie die Kooperationserträge, die durch ihre Zusammenarbeit erwirtschafteten Güter verteilt werden. Zumindest möchte jeder lieber mehr als weniger haben.
Unter einer Solidaritätsgemeinschaft versteht man hingegen ein kompensatorisches System der wechselseitigen gesellschaftlichen Sorge, die insbesondere den Bedürftigen und Schwachen gilt, den Kranken und Gescheiterten, den Pechvögeln und den Opfern. Solidaritätsgemeinschaften modernen Zuschnitts sind abstrakt; Solidaritätsgemeinschaften traditionellen Zuschnitts sind konkret. In konkreten Solidaritätsgemeinschaften helfen Menschen Menschen. In abstrakten Solidaritätsgemeinschaften verteilt eine zentrale Bürokratie immer gröÃere Teile des gesetzlich erzwungenen Steueraufkommens an Anspruchsberechtigte. Abstrakte Solidaritätsgemeinschaften verstaatlichen die Nächstenliebe und verbeamten den Samariter. Diese Entwicklung war freilich notwendig. Im Zuge der sozio-ökonomischen Modernisierungsprozesse sind die heilsamen Wirkungen der konkreten Solidaritätsgemeinschaft der Traditionswelt immer schwächer geworden, und daher mussten modernitätsspezifische neue Solidaritätsorganisationen an deren Stelle treten. Zwischen Kooperationsgemeinschaften und â insbesondere modernen â Solidaritätsgemeinschaften besteht eine eindeutige logische und historische Beziehung: Solidaritätsgemeinschaften sind logisch und geschichtlich später als Kooperationsgemeinschaften. Denn sie therapieren die Versorgungsmängel und Ungleichheitsopfer von Kooperationsgemeinschaften. Insbesondere kompensieren sie die sozialen Defizite der effizientesten Kooperationsgemeinschaft, die Menschen bislang entwickelt haben, des kompetitiven Marktes.
Moderne Gesellschaften sind zugleich Kooperationsgemeinschaften und Solidaritätsgemeinschaften. Sie bilden daher einen spannungsvollen Verbund zweier divergierender, gleichwohl aufeinander verwiesener Verteilungssysteme. Wird einmal die Verteilung der materialen Güter den Tauschmechanismen des dezentralen Marktsystems überlassen, so wird die Verteilung im anderen Fall der marktexternen Instanz einer zentralistischen Bürokratie übertragen. Damit aber diese zweite Verteilungsquelle überhaupt sprudeln kann, müssen Umverteilungen vorgenommen werden, müssen kooperativ erwirtschaftete Ressourcen der Verteilungshoheit des Marktes entzogen werden und in die Verteilungszuständigkeit des Staates übergehen. Dem Verteilen geht das Nehmen voran. Jede Umverteilung, auch die maÃvollste, bedeutet eine zwangsbewehrte Einschränkung der bürgerrechtlichen Verfügungsfreiheit über den eigenen Besitz und den Ertrag der eigenen Leistung. Der Sozialstaat ist keine moralisch neutrale Form der Zentralisierung und Koordination konkreter und spontaner Solidarität. Er ist ein Herrschaftsverband, der die Unterstützungsleistungen abgaben- und steuerpolitisch erzwingt, die löchrig gewordenen sozialen Netze der freiwilligen privaten Hilfe und lebensweltlichen Solidarität durch
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