Wie Traumata in die nächste Generation wirken: Untersuchungen, Erfahrungen, therapeutische Hilfen by Baer Udo & Frick-Baer Gabriele
Autor:Baer, Udo & Frick-Baer, Gabriele [Baer, Udo]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: gekauft
ISBN: 9783934933446
Herausgeber: Semnos Verlag
veröffentlicht: 2013-04-02T00:00:00+00:00
6.8 Aggressivität und Gewalttätigkeit
Neben der Konfliktscheu ist deren Kehrseite ebenso verbreitet, nämlich eine starke Aggressivität traumatisierter Menschen der ersten Generation.
„Meine Mutter war eine sehr, hm, aggressive Frau, so würde ich das beschreiben. Wie hat sich das geäußert? Es hat sich geäußert, indem sie diejenige war, die die Kinder geschlagen hat, nicht der Vater, indem sie auch schon mal Geräte eingesetzt hat zum Schlagen wie Kochlöffel oder so etwas und immer sehr schnell aufgeregt war, sehr schnell laut wurde, sehr schnell geschimpft hat, sehr schnell unschöne Worte in dieses Schimpfen eingebunden hat.“ (I 2)
Wir haben von Vätern und Müttern gehört, denen durch die traumatischen Erfahrungen das Mitgefühl ausgetrieben worden ist, die dadurch so verroht sind, dass sie weitgehend gefühllos wurden. Dann wird die Aggressivität und Gewalttätigkeit, die sie selbst erfahren haben, unreflektiert und brutal weitergegeben. Erfahrungen mit unseren Klient/innen der zweiten Generation haben den Eindruck verdichtet, dass es für diese Menschen der ersten Generation unerträglich zu sein scheint, ihre Kinder sowohl stark als auch schwach zu erleben. Beide Ausdrucksweisen müssen den Kindern ausgetrieben werden, denn sie erinnern an die eigene Stärke oder Schwäche, die ausgeprügelt wurde, sie werden nun ausgeprügelt – ohne dass die Kinder eine Erklärung für das Ausmaß der Aggressivität hätten.
Die meisten traumatisierten Menschen, die gegenüber ihren Kindern und anderen Menschen aggressiv sind, sind in ihrer Aggressivität komplexer. Sie haben Mitgefühl, können dies zeigen, zeigen aber wie die Mutter, von der der Sohn erzählt, zahlreiche aggressive Ausbrüche.
Wir haben oft davon gehört und in der Literatur davon gelesen, dass es bei diesen Menschen keine Verhältnismäßigkeit des Bestrafens gibt. Strafen sind maßlos, gehen über alle Grenzen der Verhältnismäßigkeit hinweg und sind völlig unberechenbar. Die konfliktscheuen Angehörigen der Trauma-Generation strafen gar nicht, haben im Extremfall sogar Angst, ihren Kindern ein „Nein, du darfst nicht“ entgegenzuhalten und lassen damit ihre Kinder ins Leere gehen. Wo es keinerlei Reibung gibt, sind die Eltern auch nicht greifbar, die Kinder erfahren kein Gegenüber – auch das ist letzten Endes nur eine der beiden Kehrseiten des Verlustes des inneren Maßes.
Es gibt zahllose Berichte von Kindern traumatisierter Menschen, in denen Eltern völlig überzogen reagieren, so dass man es fast nicht glauben möchte. Da kommt ein junges Mädchen zehn Minuten zu spät von einem Tanzabend und wird als „Hure“ beschimpft. Da macht der neunjährige Sohn einer Holocaust-Überlebenden beim Aufräumen in der Küche etwas falsch, so dass ein Glas zerbricht, und wird von der Mutter beschimpft: „Du bist wie Hitler.“
Sehr häufig zeigt sich bei Vätern oder Müttern, die Traumata erlebt haben, die Aggressivität auch in leicht sadistischen Zügen. Oft ist sie versteckt und äußert sich im Herumnörgeln, im Sarkasmus, in Bitterkeit, im Spotten und in Zynismus. Nie ist etwas richtig, ein abwertender Grundton bestimmt die Atmosphäre. Für die Kinder ist dies kaum nachvollziehbar, sie empfinden sich als abgewertet, so dass bei manchen die Überzeugung entsteht: „Ich bin falsch.“
Ein weiterer wichtiger Erfahrungsbereich der zweiten Generation ist der Umgang mit Ungerechtigkeit. Es gibt Familien, in denen beispielsweise der Vater die Kriegsgefangenschaft oder die Mutter das KZ überlebten, in denen es zur Grundregel der Erziehung wurde, dass es keine Gerechtigkeit gibt oder geben darf.
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