Wie Sie unvermeidlich glücklich werden by Lütz Manfred
Autor:Lütz, Manfred [Lütz, Manfred]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Gütersloher Verlagshaus
veröffentlicht: 2015-10-15T16:00:00+00:00
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VOM WAGNIS DES GLÜCKS – DONNERGROLLEN AUS DEM LEHRSESSEL
Was Karl Jaspers hier die Grenzsituation der Schuld nennt, das haben Christen mit dem Wort Erbsünde bezeichnet. Auch da gab und gibt es immer wieder das Missverständnis, dass man doch Schuld nicht erben könne, was ja stimmt. Der christliche Erbsündenbegriff meint aber etwas ganz anderes. In der Geschichte von Adam und Eva werden sich Christen bewusst, dass alle Menschen unvermeidlich in Schuldzusammenhängen leben, denen sie nicht entfliehen können, wenn sie nicht dem Leben entfliehen wollten. Kein Mensch ist perfekt, sagt die Erbsündenlehre, auch moralisch nicht. Deswegen wurde diese Lehre übrigens von allen Ideologien, die an den perfekten Menschen glaubten, bekämpft. Die Nazis lehnten die Erbsündenlehre ausdrücklich vehement ab, denn Arier hatten keine Defizite zu haben. Da Christen aber glaubten, sich nicht selbst wie Münchhausen aus der unentrinnbaren Verstrickung in Schuldzusammenhänge herausziehen zu können, erhofften sie die Erlösung von der Last dieser Erbschuld von der Gnade Gottes.
Solche entlastenden Lösungen aber lehnte der gestrenge Karl Jaspers strikt ab. Die Grenzsituationen müssten ausgehalten werden, forderte er. Über den Tod könne man sich nicht hinwegtrösten, indem man glaube, das Leben gehe in einem Jenseits einfach irgendwie so weiter. Dem Leid könne man durch nichts entkommen, und wenn man glaube, man könne durch selbstlose Nächstenliebe dem Kampf entgehen, täusche man sich selbst. Karl Jaspers hatte zwar einen vagen selbst gemachten Gottesbegriff, aber er war kein Christ. Er sträubte sich gegen die Vorstellung, sich die eigenen Bemühungen um ein verantwortungsvolles Leben von irgendeiner anderen Instanz abnehmen oder auch nur ermäßigen zu lassen. Karl Jaspers saß grübelnd in seinem eigenen Sessel, dachte seine eigenen Gedanken, sprach zunehmend seine eigene Sprache und endete bei den unvermeidlichen Grenzsituationen menschlicher Existenz, bei Tod, Leiden, Kampf und Schuld. Über diese Grenze kam er nicht hinaus. Während Kant sich noch am bestirnten Himmel über sich und am moralischen Gesetz in sich begeistern konnte, sprach am Ende aus Karl Jaspers der bedrückte Stolz eines einsamen Denkers. Glücklich war er wohl nicht.
Scharfsinnig beschreibt Karl Jaspers erst als Psychiater, dann als Philosoph die menschliche Existenz. Sein Denken schafft es, dass man wirklich intensiver über sich nachdenkt, dass man bewusster lebt, auch sensibler und aufmerksamer ist für die Zeit und die Welt, in der man lebt. Wie mit Donnergrollen spricht er eindringlich von Tod, Leid, Kampf und Schuld als den unerbittlichen, aber zugleich unvermeidlichen Grenzsituationen jeder menschlichen Existenz, mit denen man ein Leben lang nicht fertig wird. Bei Karl Jaspers gilt nicht »Ich denke, also bin ich«, wie noch bei René Descartes, sondern »Ich leide, liebe und sterbe, also existiere ich«. Doch wie man im tiefen Bewusstsein der eigenen Existenz dann auch wirklich glücklich werden könnte, das wird bei Jaspers nicht klar. Im Gegenteil. Bei seiner Beschreibung der Grenzsituationen menschlicher Existenz droht ein düsterer Himmel ohne einen gnädigen Gott und ohne Götter. Und unter diesem Himmel sitzt ein vor sich hin brütender Karl Jaspers und denkt nach, gequält fast, so wie der Prophet Jeremias an Michelangelos Sixtinischer Decke in Rom, in dem der melancholische Künstler sich selbst porträtiert haben soll.
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