Wer stiehlt schon Unterschenkel: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition) by Prokop Gert

Wer stiehlt schon Unterschenkel: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition) by Prokop Gert

Autor:Prokop, Gert [Prokop, Gert]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-01-20T23:00:00+00:00


Samuel, das Monster

1.

Timothy spürte seine Sinne schwinden. Das Gefühl von Nässe, das ihn noch von seiner Umwelt getrennt hatte, löste sich auf; alles Gefühl kroch aus der Haut, den Muskeln; die Nerven verstummten. Er schwebte schwerelos, körperlos. Die letzten Spuren des herben Aromas von Tang und Meer verflüchtigten sich. Eine unbeschreibbare Leichtigkeit durchflutete ihn. Dann setzte die große Stille ein, löschte das Rauschen eines fernen Gestades, löschte Wellen und Brandung, und zugleich starb das Licht. Die Farben verkrochen sich. Das Blau wallte in Grünblau, Violettblau, Schwarzblau, Blauschwarz und schließlich in ein farbloses Dunkel, aus dem ferne Lichtpunkte flohen.

Als er erwachte, wußte er nichts.

Er versuchte sich zu erinnern. Er hatte keine Vorstellung, wo er sich befinden mochte, nur das unbestimmbare Empfinden einer im Dunkeln lauernden Gefahr. Timothy fragte sich, ob er sich fürchtete. Es schien ihm unendlich lange zu dauern, bis er die Frage formuliert und bis er sie beantwortet hatte. Nein. Dann wurde ihm bewußt, daß er seinen Körper nicht fühlte. Er versuchte, die Finger zu bewegen. Er konnte nicht feststellen, ob es ihm gelang. Ein Gedanke an Tod huschte durch sein Gehirn: körperlose Seele. Timothy wehrte sich gegen den Gedanken. Ich denke, also bin ich. Er versuchte, die Zehen zu krümmen, die Hände zu bewegen, die Füße. Nichts. Als er seinem Kopf den Befehl gab, sich zu drehen, glaubte er, ein kaum wahrnehmbares Ziehen gespürt zu haben, so, als habe jemand ein Haar gegen den Strich gebürstet.

Er wollte mit der Hand an den Nacken greifen, aber er merkte nicht, ob die Hand sich bewegte, und nicht, ob die Finger etwas berührten. Er schloß die Augen. Kein Anzeichen verriet ihm, ob wenigstens das gelungen war. Warum?

Er war erschöpft. Er machte eine lange Pause, bis er sich kräftig genug für eine neue Anstrengung wähnte. Er öffnete die Lider.

Licht kreiste vor seinen Augen, so dicht, daß er erschrak. Er war froh, daß er erschrecken konnte. Und daß es ein Licht gab. 11.17.

Als Timothy erfaßte, daß es Zahlen waren, setzte auch sein Erinnerungsvermögen wieder ein. Elf Uhr siebzehn. Das Bad. Vainity. Die Lichtzeichen pendelten. Es war sein Kopf, der pendelte. Er konzentrierte sich und brachte die Zahlen zum Stehen. 11.18. Um zehn hatte er sich hingelegt. Bis zum Abend. 11.19. Was war geschehen?

Das Dunkel begann sich zu lichten, bis ein mildes Blaugrau ihn umhüllte. Töne tropften in die Stille, vereinten sich zu Klängen. Timothy sah, wie sich vor seinen Augen ein Umriß formte, Fläche, dann Gestalt annahm, und er wußte, daß es seine Füße, seine Beine waren, die dort schlingerten. Die Klänge flossen zu einer Melodie zusammen, die ihn freundlich stimmte. Er war glücklich. Er bemühte sich, gegen dieses Gefühl anzukämpfen. 11.24. Das Alarmprogramm! Wer hatte das Alarmprogramm eingeschaltet? So also sah aus, was er sonst nur im Unterbewußtsein wahrnahm, wenn er aus der Vainity zurückkehrte. Das Licht hatte sich in einem hellen Stahlgrau stabilisiert, das er kannte. Gleich würden die Farben an den Seiten wachsen. Blumen. Fische. Der kleine weiße Delphin würde sich über ihm tummeln.

Die Farben flammten auf. Er schwamm zwischen Blumen und Fischen.



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