Weihnachtsgeschichten am Kamin 35 by Mürmann Barbara

Weihnachtsgeschichten am Kamin 35 by Mürmann Barbara

Autor:Mürmann Barbara [Mürmann Barbara]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Rowohlt Taschenbuch
veröffentlicht: 2020-12-31T23:00:00+00:00


Die kluge Elvira

Monika Holland

Elvira verhielt sich anders als ihre Artgenossen; sie war sehr penibel, was ihr Futter anbetraf – Kartoffelschalen oder Essensreste der Bauersleute rührte sie nicht an -, hielt immer etwas Abstand zu den anderen und sorgte dafür, dass ihr Federkleid stets makellos weiß war. In ihrer Truppe galt sie als dumme, eingebildete Gans. Aber ganz im Gegenteil war Elvira eine besonders kluge Gans.

Im Spätherbst, wenn die Gänse auf den Wiesen nicht mehr genug Futter fanden, bekamen sie vom Bauer reichlich bestes Kraftfutter. Während ihre Verwandten darüber herfielen, zog sich Elvira konsequent zurück.

Nicht mit mir!, dachte sie trotzig. Schließlich lebte sie lange genug auf diesem Hof, um Bescheid zu wissen.

«Ihr dummen Gänse! Fresst nur! Fresst nur und werdet dick und fett! Der Bauer wird sich freuen!», schnatterte sie aufgeregt vor sich hin und begnügte sich mit dem, was der Wind vom Futterstreu über den Hof wehte.

Als vor dem Hofladen gegenüber die orange leuchtenden Kürbisse zum Verkauf auslagen, wusste sie: Das Martinsfest naht. Und richtig - eines Morgens ließ der Bauer die Gänse nicht mehr aus dem Stall. Dann kam er mit einem zweiten Mann, und gemeinsam suchten sie die fettesten Gänse heraus, steckten sie in Kisten und trugen sie fort. Die anderen sollten bis Weihnachten noch tüchtig zunehmen.

Wieder mal Glück gehabt!, dachte die schlanke Elvira und watschelte erleichtert davon. Fürs Erste war die Gefahr gebannt.

Bald wurde es immer früher dunkel - eigentlich konnte man sagen, wurde es tagsüber fast gar nicht mehr hell - und kälter. Die Gänse verbrachten fast den ganzen Tag im Stall bei den Kühen, denn da war es schön warm. Als es draußen begann, nach Schnee zu riechen, ahnte Elvira: Weihnachten nahte, das Fest des Grauens, und sie war täglich auf der Hut.

Im vergangenen Jahr, als die Bäuerin noch lebte, hatte sie Emma, die einzige Gans, mit der sich Elvira verstanden hatte, auf ihre hinterhältige freundliche Art angelockt; die gutmütige Emma war ihr arglos gefolgt und zum Dank, wie ihre Vorgänge rinnen, als Weihnachtsbraten im Ofen gelandet.

Ob sich der Bauer wohl alleine einen Gänsebraten macht?, fragte sich Elvira.

Eines frühen Morgens - alle Tiere im Stall schliefen noch - hörte Elvira den Hund bellen. Eigentlich hatte das nichts zu bedeuten, denn er bellte öfter. Aber dann vernahm Elvira Motorgeräusche, und sie wurde hellhörig. Gerade noch rechtzeitig konnte sie sich zwischen den Kühen vor den Männern verstecken, die plötzlich im Stall erschienen. Als sie wieder weg waren, zeigte sich ein Bild des Schreckens: Der Stall war leer. Sonst waren wenigstens immer noch ein paar Gänse übrig geblieben, doch diesmal hatten sie alle weggeholt.

Seitdem war irgendetwas nicht in Ordnung, schwante es Elvira. Der Hund bellte unentwegt; fremde Leute kamen, um Hund und Katze zu füttern und die drei Kühe im Stall notdürftig zu versorgen. Natürlich ohne dabei Elvira zu entdecken. Da fiel ihr auf, dass sie den Bauern auch schon länger nicht mehr gesehen hatte. Ein Unheil lag in der Luft, das spürten nun auch alle anderen Tiere.

Obwohl Elvira eine Einzelgängerin war, vermisste sie ihre Artgenossen jetzt so sehr, dass sie ohne die anderen auch nicht weiterleben mochte.



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