Weihnachtsgeschichten am Kamin 04 by Friedrichsen Uwe & Richter Ursula

Weihnachtsgeschichten am Kamin 04 by Friedrichsen Uwe & Richter Ursula

Autor:Friedrichsen, Uwe & Richter, Ursula [Friedrichsen, Uwe; Richter, Ursula]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-11-19T05:00:00+00:00


Sabine Leisner

Unter freiem Himmel

Was können menschliche Begegnungen in ihrer Vielfalt alles bewirken, besonders in der Advents- und Weihnachtszeit.

Sie kann Hoffnungsträger sein oder qualvolles Leiden auslösen, sie kann Freude und jenes geheimnisvolle Licht überbringen oder Einsamkeit im Einklang mit der Finsternis spüren lassen. Eine Begegnung kann zu sprühenden Gesprächen hinreißen aber auch ebenso still und nachdenklich stimmen.

Es gibt Menschen, die man sucht und solche, die zu einem kommen, ohne daß man sie jemals darum gebeten hat, und die eine große Wirkung hinterlassen. Letzteres widerfuhr mir zwei Tage vor dem Heiligen Abend.

Irgendwo zwischen dem Bodensee und Stuttgart nahm ich durch das Zugfenster auf einem kleinen Bahnhof einen älteren Mann wahr, der dort mit zwei Koffern und mehreren Tüten stand. Ein Nichtseßhafter oder Tippelbruder, wie er im Volksmund heißt, stellte ich in meinen Gedanken fest, welches Ziel mag er haben — gerade in dieser Zeit, wo die Seele besonders empfindsam ist und nach Wärme und Geborgenheit sucht? Dann war er meinem Blickfeld entschwunden. Nach fünf Minuten öffnete er ausgerechnet meine Abteiltür, wo doch der ganze Zug fast leer war. Er fragte höflich, ob er eintreten dürfe, was ich ihm natürlich nicht untersagte, in dieser Zeit ist man eben empfindsamer für seine Mitmenschen.

Es stiegen noch zwei weitere Personen hinzu, eine gebürtige, elegante Wienerin und eine ältere Schwarzwälderin. Wir vier gaben wohl ein sehr unterschiedliches Bild ab, und so verschieden mußten auch unsere Gedanken sein. Ich bemerkte, wie die beiden Frauen leicht die Nase rümpften und die wundersame männliche Gestalt betrachteten.

Gerade aber diese Gestalt war es, die jene stillen Überlegungen mit einer Frage an die Mitreisenden unterbrach: «Na, meine Damen, wohin soll denn die Reise gehen?» — «Schwäbisch Hall und Stuttgart, zu den Kindern», waren die prompten Antworten, während ich mich in schweigende Zurückgezogenheit hüllte. Es gefiel mir nicht, ausgefragt zu werden, außerdem fühlte ich mich erschöpft vom Beruf und sehnte mich nach Weihnachtsruhe.

Unterdessen ging das Gespräch zwischen den drei anderen Menschen weiter. Nun war er, der immer unterwegs zu sein schien, an der Reihe zu antworten, wohin ihn die Reise führte. Gerade jetzt zu den Weihnachtstagen? In seiner gepflegten, fast lyrischen Ausdrucksweise erzählte er uns, daß er seit mehr als siebzehn Jahren das Weihnachtsfest «draußen» verbringen würde. Solange sei er schon unterwegs. Die beiden Damen hielten schockiert den Atem an. Er ahnte wohl ihre Gedanken und berichtete sogleich von seiner Art, das Christfest zu erleben. «Wissen Sie, wie es gerade zu dieser Zeit ist, sein Lager in einer Scheune aufzuschlagen, vielleicht eine Flasche Rotwein und etwas Gutes zu essen zu haben, etwas Wurst, Käse und Brot, dazu die Stille und abends, wenn das Wetter gut ist — den Himmel zu schauen? Es ist unbeschreiblich, fuhrt er fort, ich bin allein und frei, fühle mich geborgen in der Natur. Manchmal treffen noch ein oder zwei Kameraden dazu, dann verbringen wir Weihnachten auf diese Weise zusammen. Glauben Sie mir, ich würde freiwillig nie in ein Asyl gehen, nur wenn das Wetter es nicht anders zuläßt und Schneestürme einsetzen. Diese Art Weihnachten zu feiern und zu erleben habe ich früher nie gekannt.



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