Weggesperrt by Grit Poppe

Autor:Grit Poppe
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Dressler Verlag, Hamburg
veröffentlicht: 2012-01-01T00:00:00+00:00

Zweiter Teil

Dort

1 So dicht wie möglich schob sich Anja ans Fenster. Sie kauerte auf der Rückbank des Wartburgs und starrte hinaus. Vor ihr saßen die beiden Erwachsenen, breitschultrig und stumm. Der Fahrer und der Erzieher, der sie im Korridor eingefangen und in den Arrest gebracht hatte. Anja schaute von ihnen weg und blickte in den Wald hinein. Sie hätte mit Doreen fliehen sollen. Zusammen hätten sie es vielleicht geschafft. Jetzt war es zu spät, oder? Jetzt war alles zu spät. Sie hatte die Worte des Direktors noch im Ohr. Aber vielleicht bluffte er nur. Vielleicht wollte er ihr nur Angst machen. Damit sie endlich spurte. Ihre Mutter vergaß. Und nur noch das tat, was sie von ihr verlangten.

Frau Dobel ging es schon wieder besser. Als Anja auf den Hof geführt und in den Wartburg geschoben worden war, hatte sie die Erzieherin am Fenster stehen sehen. Mit einem riesigen Pflaster auf der Stirn.

Einen Moment war es Anja so vorgekommen, als würde die Frau grinsen, als zeigte sie ihr zum Abschied ein schmutziges, schadenfrohes Grinsen.

Sie wollen, dass ich Angst bekomme, dachte Anja. Sie wollen, dass ich schlottere vor Angst. Und dann kehren sie um, sagte sie sich. Das ist alles nur Show, nur ein Bluff. Noch ein paar Minuten, gleich … Alles nur ein dummer, schäbiger Witz …

Sie kamen ins Dorf und Anja wartete darauf, dass der Wagen irgendwo wendete.

Aber der Wagen wendete nicht. Er fuhr einfach immer weiter.

Warum sprachen die Männer nicht mit ihr? Warum erklärten sie ihr nicht, was jetzt mit ihr passierte?

Die Worte des Direktors hallten unentwegt in ihr und sie schüttelte den Kopf, um sie endlich loszuwerden. Wohin auch immer sie gebracht wurde … Es konnte doch nicht schlimmer werden, als es jetzt schon war, oder ?

Anja knabberte an ihrem Daumennagel. Die Haut ihrer Hand war eiskalt.

Was geschah hier? Was passierte mit ihr?

Sie sah das Blut wieder vor sich. Das Blut im Gesicht der Erzieherin.

Klar, sie rächen sich, was dachte sie denn? Sie haben die Macht und wir haben nichts, hörte Anja die Stimme ihrer Mutter sagen.

Vielleicht war ihre Mutter längst im Westen. Vielleicht hatte sie keinen blassen Schimmer, was mit ihrer Tochter passierte. Sehr wahrscheinlich sogar. Woher sollte sie es auch wissen?

Anja hatte einmal gehört, dass die DDR ihre politischen Häftlinge an den Westen verkaufte, jedenfalls die, die sie loswerden wollte. Die Unbequemen. Die Störrischen, die sich nicht anpassen wollten. Wenn die DDR Menschen verkaufte, mussten sie wohl ihr Eigentum sein. Und Anja? Wem gehörte Anja? Wer bestimmte über sie, über ihr Schicksal?

Es kam ihr vor, als würde der Name des Ortes auf sie zufliegen. Natürlich – es war nur ein Schild an einer Straße, nichts weiter. TORGAU.

Automatisch tastete sie nach dem Türgriff. Vielleicht konnte sie an einer Ampel …? Aber es gab keinen Türgriff. Sie saß in der Falle. Schon wieder.

Sieht doch gar nicht so schlimm aus, die Stadt, versuchte sie sich zu beruhigen. Ganz normale Häuser, ganz normale Menschen. Ein Fluss. Das musste die Elbe sein. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser. Im Sommer schipperten sicher Ausflugsdampfer hier entlang.

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