Was wir ahnen by Rudolf Habringer

Was wir ahnen by Rudolf Habringer

Autor:Rudolf Habringer [Habringer, Rudolf]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
veröffentlicht: 2015-07-29T16:00:00+00:00


13

WERNER SCHEU

IRONISCHE PROZESSE

Du fehlst mir. Ich wäre jetzt gern bei dir.

Ich auch, sagte sie. Wir treffen uns ja übermorgen wieder.

Und was macht du heute noch?

Ich gehe dann ins Bett. Aber vorher trinke ich ein Glas auf dich. Hol dir eins, dann stoße ich mit dir an.

Aber nicht zu fest, sagte er. Sonst. Prost.

Und jetzt schaue ich dir tief in die Augen, sagte sie.

Nicht zu tief, sagte er.

Mach ich aber, sagte sie.

Du machst mich hart, sagte er.

Weiß ich, sagte sie.

Am Abend saß Scheu am Schreibtisch und spürte, wie der Ärger, den er in der Sprechstunde verspürt und mühsam unterdrückt hatte, erneut aufflammte, scheinbar ohne sein Zutun. Mit einem seiner Studenten einem zu groß geratenen, grobschlächtigen Kerl mit Vollglatze, hatte er beinahe eine halbe Stunde lang über ein mögliches Thema einer Bachelorarbeit diskutiert und war sich am Ende der zum Schluss reichlich emotional geführten Debatte regelrecht übervorteilt vorgekommen, überstimmt und überredet und überrumpelt von diesem arroganten Spätpubertierenden. Scheu hatte im vergangenen Semester eine Vorlesung zum Thema Gedächtnis gehalten und dem jungen Mann dazu passend eine Arbeit über Studien zum gelenkten Vergessen vorgeschlagen. Der Schnösel hatte sich aber aus irgendeinem Grund auf ein Thema aus der Geschichte der experimentellen Psychologie, insbesondere auf die Untersuchungen von Daniel Wegner über die Experimente zur Unmöglichkeit der Gedankenunterdrückung, auch ironische Prozesse genannt, eingeschossen gehabt und war von seinem Vorhaben nicht mehr abzubringen gewesen. Jetzt saß Scheu am Schreibtisch und, anstatt an einem Bericht über einen neurobiologischen Kongress in Hamburg zu feilen, den abzuliefern er längst versprochen hatte, ertappte er sich dabei, wie er in eine Erinnerungsschleife an die Nachmittagsdebatte und damit in einen Vorgang der Selbstbezichtigung hineinglitt. Geradezu lächerlich erschien Scheu im Nachhinein nicht nur, dass er seinem Studenten nachgegeben hatte, noch lächerlicher war, dass sich ihm dieses Nachgeben nur wenige Stunden später als diskursive Niederlage, ja geradezu als intellektuelle Demütigung aufs Gemüt schlug: Allein diese offensichtliche Selbstabwertung, die rational nicht mehr abzustellen war, erhöhte den Lächerlichkeitsgrad des Vorgangs noch einmal beträchtlich. Und hohnhaft lächerlich war wohl auch, dass Scheu mit seiner Reaktion nun zielsicher auch noch das Experiment Wegners, worüber der Student zu schreiben beabsichtigte, auf persönliche und direkte Art und Weise bestätigte: Scheus Bemühen, das Denken und seinen Ärger an das nachmittägliche Über-den-Tisch-gezogen-Werden zu unterdrücken, hatte bloß zur Folge, dass die Erinnerung daran umso stärker in den Vordergrund rückte. Dieser Vorgang benannte sich in der Forschung seit einer Studie aus dem Jahr 1994 eben als ironischer Prozess, eine Erkenntnis, die sich in diesem Augenblick vollkommen ironiefrei bei Scheu einstellte. Scheu fühlte sich wie ein Versuchsteilnehmer am Experiment: Aufgefordert, nicht an einen weißen Bären, in seinem Fall an einen glatzköpfigen Bachelor-Studenten zu denken, verstärkte sich der Gedanke an diesen in den folgenden Minuten umso mehr.

An ein Weiterarbeiten war nicht zu denken. Scheu schloss das Dokument mit dem angefangenen Bericht, den er bloß angestarrt hatte, ging ins Internet und warf einen Blick auf die Homepage der Eisbären – seit Wochen gab es Gerüchte über einen drohenden Konkurs. Auch der Jahn schwächelte seit mehreren Spielen. Der Satz Das Verletzungspech liegt wie ein Damoklesschwert über dem Kader erheiterte ihn wenigstens.



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