Was ist Kritik (B00BJ3KUQG) by Unbekannt

Was ist Kritik (B00BJ3KUQG) by Unbekannt

Autor:Unbekannt [Unbekannt]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2013-03-11T04:00:00+00:00


IX

Kritik als theoretische Darstellung

Der ästhetischen Sprachähnlichkeit und dialogischen Begegnung entspricht auf dem Feld der Theorie die Erfahrung des Begriffs. Darunter ist laut Hegel die »Erfahrung« zu verstehen, in der das befangene Bewusstsein kraft seines Begriffs über sich hinausgetrieben wird.[37] Ebenso wie Kritik dort eine dem Kunstwerk und Dialog innewohnende Kraft ist, kommt sie hier dem begrifflich Gedachten zu. Nicht die nackte Erfahrung der politischen Krisen und sozialen Konflikte, deren Geschichte und Logik Hegel in der Phänomenologie des Geistes nachzeichnet, öffnet das Bewusstsein für Kritik. Die Erfahrung macht für Kritik zugänglich allein dann, wenn sie und ihre begriffliche »Darstellung« Hand in Hand gehen.[38] Mit dem sogenannten absoluten Wissen, das um seiner selbst willen getätigt wird, wird am Schluss der Phänomenologie des Geistes die theoretische Betrachtung (des Negativen) als die Antriebsquelle ausdrücklich, welche die kollidierenden Bewusstseinsgestalten zur Kritik bewegt. Die Kraft der Kritik wird nicht durch Rechtfertigungsstrategien hergestellt, sondern »entspringt« aus einem Erkennen, das zum Selbstzweck erfolgt.[39]

Hegel entwirft in seinem Programm der »Darstellung des nicht wahrhaften Bewusstseins« – der Phänomenologie des Geistes – eine geradezu emphatische Darstellungskonzeption.[40] »Das leichteste ist, was Gehalt und Gediegenheit hat, zu beurteilen, schwerer, es zu fassen, das schwerste, was beides vereinigt, seine Darstellung hervorzubringen.«[41] Die Darstellung des simplifizierenden Bewusstseins beschränkt sich auf ein »reines Zusehen«, dessen Passivität im griechischen θεωρείν mitzudenken ist.[42] Die theoretische Darstellung hat sich einer Beurteilung des dargestellten Bewusstseins zu enthalten, um ihm nicht als Steigbügelhalter zu dienen, das gänzlich aus seiner immanenten Einstellung Täuschungen aufzudecken hat. Das befangene Bewusstsein wird, wie Hegel sich ausdrückt, »hinter seinem Rücken« und »ohne zu wissen, wie ihm geschieht«, aus der Täuschung herausgeführt.[43] Die Notwendigkeit, mit der dieser Übergang erfolgt, bedeutet hier nicht (entgegen anders lautenden Legenden) Zwang, sondern die Unverzichtbarkeit einer notwendigen Voraussetzung: Wenn ein Bewusstsein seine Befangenheit überschreitet, dann gelingt ihm dies nur kraft des Geistes, der selbstzweckmäßigen Erkenntnis. Aber ein zwingender Übergang ist dies nicht. Ebenso wenig wie Kunstwerke und Dialoge zur Einsicht zwingen, muss Theorie, aber kann sie zur Offenheit für Kritik dort führen, wo Einwände ansonsten abprallen. Ihre Bewegkraft geht indes nicht von einem Erkenntnisprivileg des Theoretikers aus, als könne er mit tieferen und neuen Einsichten dem Befangenen die Augen öffnen. Theoretisch-begriffliche Darstellungen machen für Kritik zugänglich vielmehr durch den Überschuss, der in ihrem Selbstzweck steckt. Die Bewegkraft, Befangenheiten aufzusprengen und über sie hinauszutreiben, kommt der Theorie dadurch zu, dass sie sich (nach Aristoteles) außerhalb eines Wirk- und Zweckzusammenhangs vollzieht.[44] In theoretischer Erkenntnis wird Wirklichkeit durch begriffliche Mittel ohne einen praktischen Nutzwert zur Darstellung gebracht. Das Widerstehen betriebswirtschaftlichen Effizienzdrucks verleiht der Theorie jene Beharrlichkeit, Insistenz und Unbeirrtheit, auf die Horkheimers und Adornos Gedanke von der »Unnachgiebigkeit der Theorie« ebenso verweist wie Hegels Rede von der »leidenschaftslosen Stille der nur denkenden Erkenntnis«.[45] Ohne den praktischen Nutzwert von Überzeugungs- und Therapieabsichten erfüllt sich theoretische Wirklichkeitserschließung in begrifflicher Darstellung. Dass ihr Selbstzweck dabei einen Überschuss von Kritik freisetzt, hebt sie von frei schwebender Kontemplation ab.

Damit wird deutlicher, in welchem bestimmten Sinne Kritik und Philosophie zusammenfallen. Die Annahme der Metaphysik und Transzendentalphilosophie, dass ein Erkenntnisinteresse von Natur



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