Was ich dir schon immer sagen wollte by Alice Munro

Was ich dir schon immer sagen wollte by Alice Munro

Autor:Alice Munro [Munro, Alice]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Dörlemann Verlag AG, Zürich
veröffentlicht: 2012-10-24T17:00:00+00:00


»Ich habe diese Briefe nicht geschrieben.«

»Sie sind das nicht?«

»Nein. Ich weiß nicht, wer sie ist. Ich weiß es nicht.«

»Warum haben Sie sie dann genommen?«

»Ich habe es nicht begriffen. Ich wusste nicht, was Sie meinten. Ich habe in letzter Zeit einen großen Kummer gehabt, und manchmal … höre ich nicht richtig hin.«

»Sie müssen mich für verrückt gehalten haben.«

»Nein. Ich wusste nicht, was ich denken soll.«

»Es ist nämlich so – mein Mann ist gestorben. Er starb im März. Das sagte ich Ihnen ja schon. Und diese Briefe kommen immer weiter. Es gibt keinen Absender. Keinen Familiennamen. Sie sind in Vancouver abgestempelt, aber was hilft das? Ich habe damit gerechnet, dass sie hier auftaucht. Sie klingt allmählich völlig verzweifelt.«

»Ja.«

»Haben Sie sie alle gelesen?«

»Ja.«

»Haben Sie so lange gebraucht, um zu merken, dass ein Irrtum vorliegt?«

»Nein. Ich war neugierig.«

»Sie kommen mir bekannt vor. Das geht mir bei vielen Leuten so, wegen des Ladens. Ich sehe so viele Leute.«

Ich nenne ihr meinen Namen, meinen richtigen Namen, warum nicht? Er sagt ihr nichts.

»Ich sehe so viele Leute.« Sie hält die Tüte mit den Briefen über den Papierkorb, lässt sie fallen. »Ich kann sie nicht länger aufbewahren.«

»Nein.«

»Sie wird eben leiden müssen, ich kann’s nicht ändern.«

»Irgendwann wird sie dahintersteigen.«

»Was, wenn nicht? Na, ist nicht meine Sorge.«

»Nein.«

Ich will nicht mehr mit ihr reden, ich will nicht mehr ihre Geschichten hören. Die Luft um sie herum ist schneidend, als strahlte sie ein schädliches Licht aus.

Sie schaut mich an. »Ich weiß nicht, wie ich auf die Idee gekommen bin, Sie könnten das sein. Sie sehen nicht viel jünger aus als ich. Meines Wissens waren sie immer jünger.«

Dann sagt sie: »Sie wissen mehr über mein Leben als die Mädchen, die für mich arbeiten, oder meine Freunde oder irgendjemand sonst, außer ihr vermutlich. Es tut mir leid. Ich möchte Sie wirklich nicht mehr sehen.«

»Ich wohne nicht hier. Ich fahre wieder weg. Vielleicht sogar schon morgen.«

»So ist eben das Leben, wissen Sie. Eben das Übliche. Was nicht heißt, wir hatten zusammen kein gutes Leben. Wir hatten keine Kinder, aber wir taten, was wir wollten. Er war ein sehr netter Mann, gut zu leiden. Und erfolgreich. Ich war immer der Meinung, er hätte noch erfolgreicher sein können, wenn er sich stärker angestrengt hätte. Aber trotzdem. Wenn ich Ihnen seinen Namen sagen würde, könnte sein, dass Sie ihn kennen.«

»Das brauchen Sie nicht.«

»Nein. Ach, nein. Nicht notwendig.«

Sie verzieht das Gesicht, ein wenig bitter schluckend, und endet mit einem leichten Schmunzeln, das mich abfertigt. Ich wende mich um, fast rechtzeitig, um es nicht zu sehen.

Ich trete auf die Straße hinaus, es ist an dem langen Abend immer noch hell. Ich laufe und laufe. In dieser Stadt meiner Phantasie gehe ich an hohen Mauern vorbei steile Hügel hinauf und hinunter und sehe im Geiste dieses Mädchen Patricia. Mädchen, Frau, die Art von Frau, die ihrer Tochter den Namen Samantha gibt – sehr schlank, dunkel, modisch gekleidet, etwas nervös, etwas künstlich. Ihre langen schwarzen Haare. Ihre langen schwarzen Haare ungekämmt und ihr Gesicht fleckig. Sie sitzt im Dunkeln. Sie geht in den Zimmern umher.



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