Wäre Luther nicht gewesen - Das Verhängnis der Reformation by Michael Lösch
Autor:Michael Lösch [Lösch, Michael]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Ein Thesenbuch
ISBN: 9783423430784
Herausgeber: dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
veröffentlicht: 2016-12-28T23:00:00+00:00
Volksfrömmigkeit? Glaube, Aberglaube und religiöse Anpassungen
Bei all den Geistesfürsten und ihren humanistischen Höhenflügen – wie sieht es mit dem Durchschnittsmenschen jener Zeit aus?
Zunächst: Jeder neunte Einwohner Deutschlands ist Kleriker. Köln zum Beispiel hat 30 000 Einwohner, knapp 120 Kirchen und Kapellen und 22 Klosteranlagen. Auf ein Gotteshaus kommen mithin 250 Gläubige – die Klöster und ihre Insassen nicht mitgerechnet. Heute hat Berlin knapp eine Million eingetragene Christen und 300 Gottesdienststätten. Auf ein Gotteshaus kommen etwa 3300 Christen. Man kann also getrost von einer religiösen Überschirmung der Lutherzeit sprechen, wie sie heute kaum mehr vorstellbar ist. Not, Ungerechtigkeit, Benachteiligung oder Unterdrückung begleiten den damaligen Menschen, aber religiös verpackt. Kaum ein gesellschaftliches, wirtschaftliches oder gesundheitliches Problem, das nicht durch das Prisma des Glaubens angeschaut wird. Jedes problemorientierte Argument ist religiöser Natur.
Die Analphabetenrate ist hoch, die Leute besuchen die Kirche nicht nur, um zu beichten oder dem Gottesdienst beizuwohnen, sie finden in den zahlreichen bildlichen Bibeldarstellungen auch »Lesestoff«: Die sequenzielle Darstellung, wie sie die Kunstgeschichte spätestens seit der Trajanssäule in Rom und heute im Comic kennt, ist ein Stück gesuchter Ablenkung, die Fort-Bildung des Analphabeten. Mit dieser Kultur vor Augen findet der damalige Mensch aber nicht oder nur langsam zur wirklichen Welt, wie sie der Humanismus sich wünscht. Die damals zugängliche Bilderwelt hat vor allem einen Gegenstand immer im Gepäck: die aus dem Mittelalter herrührende, sehr treffsichere Angst. Sicher nicht unbegründet. Katastrophen aller Art sind ständige Begleiter, aber die Angst ist auch ein antihumanistischer Selbstläufer. Im alltäglichen Aberglauben an Hexen, böse Zauber oder magische Praktiken finden sich zusätzliche angstbesetzte Wahnvorstellungen. Groß ist die Macht der Psychosen, auch Massenpsychosen, klein die normative Kraft des Faktischen. Die Angst ist ein ständiger Begleiter, sie ist Teil der Alltagskultur. Aus Angst geht Luther seinen Weg. Dunkle Prophezeiungen, etwa zum Weltende, finden eine an Gier grenzende Aufnahmebereitschaft. Man lebt nicht nur in Angst, man kultiviert sie, sie ist nicht nur Kern des Glaubens, sondern auch Kern einer allgemeinen Irrationalität. Man sucht nach Rettung und glaubt, sie in Erweckung oder Läuterung zu finden. Wallfahrten sind ein Mittel, zu dem gern gegriffen wird. Das führt so weit, dass selbst die Kirche um Schadensbegrenzung bemüht ist. Es sind Theologen, die beklagen, dass Gläubige, analog zu den Jesusjüngern, ihre Arbeit plötzlich niederlegen und auf Wallfahrt gehen, vor allem, wenn sich die Nachricht eines Wunders verbreitet. Der Wunderglaube ist das Resultat einer aus Angst genährten Hoffnung. Im Jahr 1496 sollen 140 000 Gläubige an einer 14-tägigen Marien-Wallfahrt nach Aachen teilgenommen haben. Knapp 120 000 Pilger sollen um 1520 zur Schönen Maria nach Regensburg gekommen sein, das damals mutmaßlich 12 000 Einwohner zählte.
Man besucht weiterhin die Wallfahrtsklassiker Rom oder Santiago de Compostela. In Venedig, wo die sechs bis acht Wochen dauernden Überfahrten in das ferne Palästina beginnen, gibt es spezialisierte Pilgerherbergen, auch speziell für die Deutschen, es gibt Agenturen, die Kontrakte mit Reedern anbieten. Für viele Pilger endet das religiöse Abenteuer allerdings mit Schiffbruch oder Sklaverei. Mit den hysterisch vorgetragenen Kreuzzugsgelübden gehen blutige Pogrome gegen Juden einher. Mit dem Auftreten der Pest im 14. und 15.
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