Vorzimmer zum Paradies by Benoît Duteurtre
Autor:Benoît Duteurtre [Duteurtre, Benoît]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Bastei Entertainment
veröffentlicht: 2015-08-12T16:00:00+00:00
IV
Die Große Anomalie
1
Das glückliche Wiedersehen
Am frühen Morgen verließ Simon Laroche sein Refugium in den Bergen, erfrischt und bereit, den Kampf fortzusetzen. Dieses Mal musste er nicht auf die Dienste des Billigfliegers mitsamt seiner kostenpflichtigen Toiletten zurückgreifen, sondern hatte einen Platz in dem neuen Hochgeschwindigkeitszug ergattert, der die Reisezeit auf drei Stunden reduzierte. Doch als er unter dem schmiedeeisernen Dach des Hauptbahnhofs stand und nach dem entsprechenden Gleis suchte, ging ihm auf, dass die Hochgeschwindigkeitszüge von einem »Terminal« zehn Kilometer außerhalb des Stadtzentrums abfuhren. Es gab keinen Zubringerzug, also machte Simon sich samt seinem Gepäck verdrossen auf den Weg zum Busbahnhof.
Eine Viertelstunde später stand er vor dem Terminal, der wie ein überdimensionales Betonschiff mit riesigen Fenstern aussah. Simons Ärger steigerte sich noch, als ihm eine Hostess im Innern des Terminals die Zugangsmodalitäten zum Hochgeschwindigkeitszug erklärte. Demzufolge musste er vor dem Einstieg »einchecken«, ein Begriff, der bei der Luftfahrt entliehen war. Mit anderen Worten: Die Passagiere mussten sich ausweisen, indem sie ihren Pass vorlegten, sie mussten außerdem ihr Gepäck wiegen lassen und im Fall von Übergewicht einen Aufpreis zahlen.
Während der Eincheck-Prozedur zeigte Simon sich unwillig, konnte seinen Pass nicht finden (»Woher hätte ich wissen sollen, dass man den zum Zugfahren braucht?«) und stritt mit dem Angestellten, dem er unfreundlich verdeutlichte, was er von den Änderungen hielt. In seinem Kopf meldete sich eine kleine weise Stimme:
»Wenn du Probleme mit Veränderungen hast, solltest du einen Psychoanalytiker konsultieren.«
Eine weitere, etwas verständnisvollere Stimme antwortete:
»Nicht doch. Du bist immer gern Zug gefahren, weil es so praktisch und so einfach war … aber das ist es längst nicht mehr.«
»Also wirklich«, entgegnete die erste Stimme ungeduldig. »Hör endlich auf mit dieser Leier gegen alles, was modern ist. Immerhin darfst du mit Tempo dreihundert nach Hause fahren, du aber siehst nichts als Niedergang und Zerfall! Das Problem ist in deinem Kopf.«
Simon fuhr mit der Rolltreppe nach oben zur Gepäckannahme und protestierte gegen die zehn Euro Aufpreis, die man ihm abnehmen wollte. Schließlich bezahlte er schimpfend unter den erstaunten Blicken der anderen Passagiere. Die Stimme der Weisheit flüsterte ihm zu:
»Warum regst du dich auf? Das führt doch zu nichts. Du kannst zwar betrauern, dass die Welt sich weiterentwickelt, aber du kannst nichts dagegen tun.«
»Aber wenn keiner was sagt, wird es doch noch viel schlimmer!«, antwortete die verständnisvolle Stimme.
»Diese Themen sind viel zu hoch für dich, und das Leben ist kurz. Denk einfach an die drei Tage, die du am See verbracht hast, an die Berge, an die blühenden Wiesen, an die guten Ratschläge von Seneca, den du gestern Abend bei Sonnenuntergang gelesen, und an die weisen Vorsätze, die du vor deiner Abfahrt gefasst hast.«
Als Simon den bequemen Waggon der ersten Klasse betrat, musste er zugeben, dass das neue Reservierungssystem einige Vorteile aufwies: Die Lotterie, zu der das Reisen inzwischen geworden war, hatte ihm einen Platz zu einem Schleuderpreis beschert. War das vielleicht ein gutes Vorzeichen auf die kommenden Tage, die ihn wieder mit der Realität konfrontieren würden? Würde die Hexenjagd ein Ende nehmen? Würde er aus der Sache herauskommen, ohne sich
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