Vor meinen Augen by Alice Kuipers

Vor meinen Augen by Alice Kuipers

Autor:Alice Kuipers [Kuipers, Alice]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104010144
Google: bbxqAgAAQBAJ
Herausgeber: Fischer E-Books
veröffentlicht: 2011-08-09T22:00:00+00:00


Dienstag, 4. April

Heute Morgen tat ich nur so, als ob ich zur Schule gehen würde. Das habe ich noch nie vorher gemacht, aber ich fühlte mich zu zittrig und irgendwie komisch, um wirklich in die Schule zu gehen. Ich verließ das Haus, ohne mit Mum geredet zu haben. Ich wartete auf der anderen Straßenseite und wusste nicht, was ich tun sollte. Es war warm, und kleine gelbe Blumen schoben sich durch die Erde rings um die großen Bäume in unserer Straße. Ich konnte Blütenduft riechen und hörte Vögel zwitschern. Ich war völlig benommen vor Panik und wusste wirklich nicht, wie ich den Tag überstehen sollte. Zum Glück kam Mum nach einer Weile aus der Haustür heraus. Ich fragte mich, wo sie wohl hinwollte, aber als ich dann hineinging, fand ich eine Nachricht für den Fall, dass sie später nach Hause kommen sollte als ich. Auf dem Zettel stand, dass sie etwas zu Essen für die Woche und dann noch Klamotten einkaufen würde und hinterher noch rüber in die Kirche wollte.

Sobald ich im Haus war, schloss ich die Tür vor der Lebendigkeit des Frühlings. Ich dachte, hier drinnen wäre es dann richtig still, aber Häuser ohne Leute sind gar nicht still, eher ist es so, dass sie ächzen und atmen, als hätten sie eine eigene Persönlichkeit. Ich fragte mich, welche Persönlichkeit unser Haus wohl hat – wahrscheinlich ist es irgendwie melancholisch und einsam. Der Holzboden, den Mum selbst eingelassen hat, knarrte, als ich an der Kommode mit dem alten Telefon darauf (so alt, dass es noch eine Wählscheibe hat) vorbeikam. Ich sah mich beim Vorbeigehen im Spiegel und erschrak über mein blasses, kaputtes Aussehen. Ich tastete nach den großen dunklen Schatten unter meinen Augen. Die Hängepflanzen über der Tür zum Wohnzimmer mussten dringend gegossen werden, aber ich holte nicht die Gießkanne. Stattdessen stand ich da und sah mir all die Bücher im Wohnzimmer an und die Bilder an der Wand, die Mum vor Jahren gemalt hat. Ich versuchte, mich zu erinnern, wann sie das Malen aufgegeben hat. Mir fiel ein, dass sie Saxophon gespielt hatte, als ich klein war. Immer wenn sie übte, hatten Emily und ich sie geärgert und sie zum Spaß angebettelt, doch endlich aufzuhören. Und irgendwann hörte sie auf. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich sie das letzte Mal hab spielen hören. Wenn ich damals hätte ahnen können, dass sie wirklich aufhören würde, hätte ich sie gebeten weiterzuspielen.

Ich stieg die Treppe hoch. Vor Emilys Tür machte ich halt, stieß sie auf und sah all ihre Sachen an, die genau so dalagen wie immer. Ich fiel auf die Knie und aus meinem Mund kam ein Laut, der klang wie das Heulen eines verwundeten Tieres. Ich hielt meinen Bauch und krümmte mich nach vorne. Der Schmerz ging nicht weg. Ich konnte nicht aufhören zu weinen.



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