Vor hundert Jahren und einem Sommer by Jürgen-Thomas Ernst
Autor:Jürgen-Thomas Ernst [Ernst, Jürgen-Thomas]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Braumueller
veröffentlicht: 2015-09-27T16:00:00+00:00
25
Annemie klopfte an keinem einzigen Tor. Sie wusste um die Vergeblichkeit ihrer Bitten und trottete auf verstaubten Straßen einer ungewissen Zukunft entgegen. Irgendwann in diesen Tagen setzte sie sich an einem Stadttor, dort, wo der Weg zu einem Marktplatz führte, neben eine Mauer und bettete ihr Kind zwischen ihre gekreuzten Beine.
Dämmernd, das klagende Wimmern ihres Sohnes ständig in den Ohren, überließ sie sich dem Bettel, empfing Kupfermünzen, Orangen und einmal sogar eine Karaffe mit rotem Wein, damit sie ihr Elend und den Kummer für kurze Zeit vergessen konnte. Als sie ihrem Jungen vergeblich eine Orangenspalte zwischen die rissigen Lippen schieben wollte, fragte er plötzlich, ob er auch bald hinter diese Mauer gebracht werde, wo sich die tote Magd und die vielen Kreuze mit den glänzenden Schildern befänden, die das Gesicht der Verstorbenen zeigten. Ob er dann auch so ein Schildchen auf seinem Kreuz erhalten werde?
Nach einem stechenden Schmerz, der durch Annemies Körper ging, lächelte sie und flüsterte: Was du auch immer redest, mein Kind.
Und während sie seinen Kopf streichelte und er den Worten nicht glauben wollte, setzte sie nach: Nein, nein, mein Kind.
Aber in das Lächeln hinein rollten verräterische Tränen über ihre Wangen, und da sie keinen Rat und keine erklärenden Worte mehr wusste und die Verzweiflung in ihr zu groß wurde, fing sie an zu singen. So wie ihre Ziehmutter immer gesungen hatte, wenn ein Kind krank im Bett lag.
Rot, rot, rot sind alle meine Kleider.
Und während sie sang, wanderten die Augenlider des Kindes langsam hinab, bis es mit mehreren Seufzern in einen unruhigen Schlaf glitt. Dann erfasste auch Annemie eine große Müdigkeit, als sie das einschläfernde Blätterrauschen der Pappeln vernahm, die in der Mitte der breiten Straße in einer von der Hitze zerfurchten Erde wuchsen.
Von weit entfernt drang noch ein Klappern an ihre Ohren und verschwamm irgendwo in einem tiefen Schacht ihrer Gedanken. Das Geräusch stammte von den Hufen eines Pferdes, das im schnellen Galopp gerade einen weiß gekleideten Mann an ihr vorübertrug. Dann sackte ihr Kopf vornüber. Kurz danach tauchte sie in einen schweren Schlaf und bemerkte auf der anderen Straßenseite jenen alten Mann nicht, der an einer zerbröckelnden Mauer vorüberging und ihr Ziehvater war.
Schwitzend erwachte sie, als ihr die späte Nachmittagssonne ins Gesicht schien, und wurde sofort hellwach.
In ihrem Schoß spürte sie eine eigenartige Kühle und sah Augenblicke später die erstarrten Hände ihres Kindes und den leicht geöffneten Mund, auf dem sich bereits Fliegen niedergelassen hatten, die sie sofort mit fächelnden Händen verscheuchte. Still und verwirrt trug sie den reglosen Körper in südlicher Richtung aus der Stadt und ging weiter, bis die Berge schon weite Schatten über das Tal legten.
In einem Dorf zog sie neben einer kleinen Kirche die Glocke am Haus des Pfarrers, der sie erstaunt anblickte, als sie ihm mit ausgestreckten Armen ihren toten Sohn entgegenhielt.
Es ist heimgegangen, flüsterte sie. Nur sein Körper bittet um einen Platz auf Ihrem Friedhof.
Sofort ließ er nach dem Arzt rufen, der das Kind untersuchte und später den Totenschein unterschrieb.
Als im Tal schon das Dämmern der folgenden Nacht begann,
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