Vor dem Morgen by Jørn Riel

Vor dem Morgen by Jørn Riel

Autor:Jørn Riel [Riel, Jørn]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Arktis, Dänemark, Grönland, Insel, Kindheit
Herausgeber: Unionsverlag
veröffentlicht: 2015-12-19T16:00:00+00:00


Zweiter Teil

7

Die Siedlung bot noch das gleiche Bild wie bei ihrer Abreise. Der Hang zum Fjord lag in der vollen Nachmittagssonne, und die Farben der Berge verschluckten die großen Zelte fast. Die Schatten der Kajaks und Fleischgestelle fielen lang und dünn zu den Felsen hin, und die schweren Steine der Fleischgruben wölbten sich wie schwarze Hügel aus der Erde.

Manik rief und winkte aufgeregt. Hier kam ein Inuit, der den ganzen Sommer auf Reisen war. Hier kam ein Fänger von einer langer Fahrt zurück. Er war so voller Eifer, dass er sein Ruder beinahe ins Wasser fallen ließ.

Aber nur sein Echo gab ihm Antwort. Niemand kam aus den Zelten, kein Kind hatte sie vom Felsausguck angekündigt, und keine Alten kamen zum Strand gehumpelt, um sich nach Neuigkeiten zu erkundigen. Die Siedlung war wie ausgestorben.

Sie ruderten an Land und zogen das Boot ein Stück auf den Strand. Ninioq nahm den Jungen an die Hand, und sie gingen zusammen hoch zu den Zelten. Sie verspürte Unruhe, diese erschreckende Unruhe, die vor etwas Neuem und Fremdem warnte. Manik war vor Enttäuschung dem Weinen nahe.

»Wo sind sie denn alle?«, fragte er. »Warum ist denn niemand draußen, um uns zu begrüßen?«

»Sie sind vielleicht im Hinterland«, entgegnete Ninioq. »Oder sie sind auf Walrossjagd. Kann sein, dass heute niemand zu Hause ist.«

Aber sie fühlte, dass es nicht wahr war. Sie spürte, dass etwas geschehen war, es musste einen anderen Grund für diese Stille geben. Man ging nicht mehr ins Hinterland auf Jagd, denn die Rentiere waren vor vielen Jahren schon verschwunden, und man ging keinesfalls mehr in anderen Fjorden auf Jagd, ohne die Kajaks und Frauenboote mitzunehmen. Es musste etwas Schlimmes geschehen sein, das die ganze Siedlung hatte flüchten lassen.

Sie erreichten Katingaks Zelt. Ninioq rief, aber es kam keine Antwort. Das Fell, das vor dem Eingang hing, bewegte sich träge im schwachen Wind, der vom Meer wehte. Aus dem Zelt drang ein scharfer und süßlicher Geruch. Ninioq kannte ihn. Sie wusste augenblicklich, wovor der Geruch warnte. Ihr ganzes Leben lang war ihr dieser fade, leicht stechende Geruch immer wieder begegnet: der Geruch des Todes.

»Bleib hier«, sagte sie zu dem Jungen. Sie schob ihn zur Seite, und er hörte aus ihrer Stimme, dass etwas Ungewöhnliches bevorstand, und erhob keine Einwände. Er ging zum Frauenboot zurück, wo Najak angebunden war.

Als das Eingangsfell hinter Ninioq wieder herunterfiel, war es fast dunkel im Zelt. Nur ein schwacher Streifen Licht sickerte vom Rauchloch herab, und sie blieb einen Augenblick stehen, um sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Langsam traten die Einzelheiten im Zelt hervor, und da begann sie laut zu wehklagen.

Vor ihren Füßen lag Katingak. Er lag mitten im Zelt, gekrümmt, die Knie ganz an die Brust gezogen. Sein Gesicht, das in dem schwachen Lichtkreis des Rauchloches lag, war verzerrt, als hätte er vor seinem Tod noch fürchterlich gelitten. Sein Hals und der nackte Oberkörper waren mit großen, eingetrockneten Wunden übersät, tiefe Krater, die

aussahen, als stammten sie von aufgeplatzten Geschwüren. Ninioq spürte, wie ihr kalter Schweiß auf Stirn und Handflächen trat. Sie stand versteinert und starrte auf ihren Sohn.



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