Vom anderen Ende der Welt by Liv Winterberg

Vom anderen Ende der Welt by Liv Winterberg

Autor:Liv Winterberg
Die sprache: de
Format: mobi
Tags: Belletristik/Historische Romane, Erzählungen
Herausgeber: DTV Deutscher Taschenbuch
veröffentlicht: 2011-09-05T06:56:51+00:00


Mehrfach hatte Carl Segelmacher-John bei der Arbeit beobachtet. Stets hielt er den Kopf in die Höhe, gab eine seiner Geschichten zum Besten, und die Hände auf der hölzernen Bank schienen ein Eigenleben zu führen. Doch sobald sich Segelmacher-John erhob, wandelte sich das Bild. Suchend ertasteten seine Hände sich den Weg. Carl vermutete, dass sich Johns Sehvermögen auf der Fahrt noch einmal verschlechtert hatte, dass er wahrscheinlich gerade noch Licht von Schatten zu unterscheiden wusste. Und so verließ Segelmacher-John seine Bank so selten wie möglich, offensichtlich in der Hoffnung, dass man seine Unsicherheit nicht zur Kenntnis nahm.

Die Unsicherheit, von der jeder an Bord wusste.

Carl konnte sich nicht erinnern, den Segelmacher auch nur ein einziges Mal in den Masten erlebt zu haben. Immer schickte er einen der Toppsgasten und gab ihnen Anweisungen, die sie widerspruchslos befolgten. Niemand sprach darüber, aber die Besatzung schien sich einig, den Mann in dem Glauben zu lassen, man würde ihm sein Gebrechen nicht anmerken.

Mit einem weißen Leintuch über dem Arm betrat Segelmacher-John die Kajüte des Schiffsarztes. Er blieb in der Tür stehen und ließ seinen silbern-leeren Blick durch den winzigen Raum gleiten. Doch Carl wusste, dass er dabei mehr wahrgenommen hatte als viele Sehende.

Franklins kalten Körper, der auf dem Behandlungstisch ruhte.

Den Schiffsarzt, der zusammengerollt in seiner Koje lag.

Den schmächtigen Zeichner, der in der Ecke auf einem Stuhl kauerte und sacht mit dem Oberkörper hin- und herschwankte.

Und sicher hatte er auch Carls Hand bemerkt, die immer wieder eine von Franklins Locken glattstrich und spürte, wie sie sich aufrichtete, als wäre nichts geschehen.

»Ich habe Segeltuch Nr. 1, einen Stoff von hervorragender Qualität, mitgebracht, da ich nicht weiß, ob die Herrschaften Hängematten haben, in die sie eingenäht werden. Es ist das beste Tuch, das wir an Bord haben. Hierin werden wir sie auf ihre letzte Reise schicken.«

Er trat neben den Tisch, und Mary stand mühsam auf, aschfahl im Gesicht. Gemeinsam hoben die beiden Franklin an, um ihn in das Segeltuch zu legen. Kaum, dass Segelmacher-John das Tuch über ihm zusammenschlug, rannen Mary erste Tränen über die Wangen.

Eine Zwinge legte sich um Carls Brust und drückte ihm den Atem ab.

Stich um Stich wurde Franklin in das Segeltuch eingenäht. Mit jedem Stich verschwand ein Stück mehr von ihm aus ihrem Leben. Als sich Segelmacher-John Franklins Nase näherte, beugte er sich vor und strich ihm über die Wange. Leichen erkannte er einwandfrei. Der Stich durch die Nase, um sicherzugehen, dass derjenige, der in das Segeltuch eingenäht wurde, nicht mehr lebte, war nicht vonnöten.

Franklin war und blieb tot.

Kein Wunder wollte geschehen.



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