Vom Ende der Einsamkeit by Benedict Wells
Autor:Benedict Wells [Wells, Benedict]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2016-09-23T16:00:00+00:00
*
Ein Tag im Januar, graues, rußiges Abendlicht fiel ins Abteil, die Wolken bekamen an den Rändern einen metallenen Glanz. Der Zug verlangsamte seine Geschwindigkeit, rollte aus, kam zum Stehen. In Luzern erwartete mich Alva auf dem Bahnsteig. Sie küsste mich dreimal auf die Wangen, dann führte sie mich zu ihrem Wagen, wo ihr Mann auf mich wartete.
»Ich kann nicht glauben, dass du wirklich gekommen bist«, sagte sie im Gehen und fasste damit zusammen, was ich mir ebenfalls dachte.
A. N. Romanow war bereits siebenundsechzig, sah jedoch mindestens zehn Jahre jünger aus.
»Alexander«, sagte er und reichte mir die Hand. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.«
Sein Akzent war kaum herauszuhören. Romanow war eine schlanke, große, distinguierte Erscheinung mit gewellten grauen Haaren, an jenem Abend noch elegant mit Anzug und Hemd, dessen oberste Knöpfe er offen ließ. Sein kantiges Gesicht war wie gemeißelt, er hatte einen spitzbübischen Zug um den Mund und strahlte darüber hinaus etwas altmodisch Männliches aus; man konnte sich nicht vorstellen, dass er früher einer Schlägerei ausgewichen war oder nicht wusste, wie man ein undichtes Abflussrohr reparierte.
Alva nannte ihren Mann nicht Alexander, sondern Sascha, die russische Koseform. Während sie uns zum Chalet hinauffuhr, erklärte mir Romanow die Gegend. Ich war davon überwältigt, der sonoren Stimme dieses Mannes zuzuhören, von dem ich so viele intime niedergeschriebene Gedanken kannte. Romanow hatte seinen Durchbruch mit Anfang zwanzig gehabt, ein intellektueller Dandy, dessen Romane und Novellen in dreißig Sprachen übersetzt worden waren. Inzwischen war sein Ruhm allerdings verblasst und nur noch im Internet existent, wo ich neben Berichten über seine erste Ehe auch mehrere Schwarzweißfotos gefunden hatte, mal mit berühmten Künstlern seiner Zeit, mal einsam rauchend vor einem Club in Camden.
Alva und er lebten nicht mehr in Luzern, sondern seit zwei Jahren in einem kleinen Bergdorf namens Eigenthal, am Fuße des Pilatus. Die Gegend war ländlich, außer einigen Bauern und Einheimischen wohnte kaum jemand hier oben, die meisten Ferienhäuser schienen unbewohnt. In der Ferne das melodische Hupen des gelben Postautos.
Wir erreichten ein weitläufiges Grundstück, eingefasst von einem morschen Lattenzaun. Das Chalet selbst war ein mächtiger Bau mit einem Fundament aus Stein, die oberste, schindelgedeckte Etage war aus Holz. Dahinter erstreckten sich ein Garten und eine Wiese, die von einer feinen Eisschicht überzogen war. Ein abgeschiedener Ort, der nie ganz den Zugang zur Welt gefunden zu haben schien. Ich verstaute meine Sachen im Gästezimmer und überlegte einen Moment, was ich hier eigentlich tat.
Zum Abendessen gab es Raclette, Kartoffeln und Weißwein. Das Grammophon auf der Kommode spielte Jazz.
»Time Further Out«, sagte ich. »So etwas hören Sie beim Abendessen?«
Romanow war erfreut. »Manchmal. Gefällt es Ihnen?«
»Meine Mutter mochte Brubeck gern.«
»Ich habe Dave mal in San Francisco erlebt. Sehr umgänglicher Typ, wir landeten nach einer Show in derselben Bar, haben Stunden miteinander geredet.«
Alva warf mir einen kurzen Blick zu. »Du musst wissen, dass Sascha ihn die ganzen Sechziger hindurch gestalked hat. Er ist ihm von Konzert zu Konzert hinterhergereist. Irgendwann hat Brubeck aus Mitleid fünf Minuten mit ihm geredet.«
Romanow legte seine Hand auf ihre. »Ich weiß sie kaum noch zu beeindrucken. Ich biete ihr Dave Brubeck, aber sie will immer noch mehr.
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