Voltaires Kalligraph by Pablo De Santis

Voltaires Kalligraph by Pablo De Santis

Autor:Pablo De Santis [Santis, Pablo De]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Argentinien, Frankreich, Geschichte, Kriminalroman, Spannung
Herausgeber: Unionsverlag
veröffentlicht: 2015-11-21T16:00:00+00:00


Schläge gegen das Fenster

Ich hatte keine andere Waffe als den eisernen Kerzenleuchter, um mich gegen den Unbekannten zu verteidigen, falls er versuchte, mich an der Flucht zu hindern. Er war allein und stand reglos da, als hoffte er, ich würde ihn so nicht bemerken. Die Eisblöcke hatten zu schmelzen begonnen. Meine Schuhsohlen waren bereits nass, und auch der Fremde stand mit den Füßen im Wasser. Mit vorsichtigen Schritten, darauf bedacht, nicht auszurutschen, kam die Person auf mich zu.

Die Kapuze glitt ihr vom Kopf, und ich erkannte das Gesicht von Clarissa. Das war einer jener Momente, in denen man an die Gerechtigkeit der Welt glaubte und sich sicher war, dass alles gut war, so wie es war, und man nichts zu fürchten hatte. In Wortfetzen, nach Luft ringend und unterstützt von unsinnigen Gesten gelang es mir schließlich, sie zu fragen, was sie an diesem Ort verloren habe.

»Ich wollte wissen, wohin es meinen Vater nachts immer zieht. Er ist es wohl leid, von den Lebenden zu lernen. Jetzt nimmt er seine Lektionen bei den Toten.«

Der Bischof beobachtete unsere Umarmungen und Küsse ebenso ernst wie besorgt, da durch die Wärme, die unsere Körper ausstrahlten, die Eisblöcke schneller abtauten, und er früher oder später vom Stuhl fallen würde.

Ein Windstoß löschte nun auch das Licht meiner Laterne, und der Bischof blieb allein in der Dunkelheit zurück. Er musste sein Amt bis zur letzten Sekunde ausüben: den Kopf senken, die Arme von den Fäden lösen, den Rest an Würde verlieren, und dem Schmelzen der Eisschollen beiwohnen. Ich schloss die Eisentür hinter uns, und wir machten uns auf den Weg nach draußen.

»Was werden Sie machen, jetzt, wo Sie die Wahrheit kennen?«

»Der Satz lautet wohl eher: Was wird die Wahrheit mit mir machen?«

Die Gräber wirkten wie vergessene Figuren eines alten Spiels. Ich fragte Clarissa, ob es stimme, dass ihre Krankheit sie in einen Maschinenmenschen verwandelt habe.

»Das sind Hirngespinste meines Vaters. Er glaubt, dass seine Kreaturen und ich Geschwister sind und zu einer Familie gehören.«

»Aber ich habe doch neulich selbst gesehen, wie reglos und starr Sie waren, als würden Sie schlafen.«

»Aber hat das nicht jeder mal, dass man sich nicht vom Fleck rührt, als hätte der Blitz einen getroffen?« Bevor ich darauf etwas erwidern konnte, hatte Clarissa mich geküsst. »Kann man mich wirklich mit einem Automaten verwechseln?«

Kolm wartete vor dem Friedhof auf uns; wir waren noch nicht ganz bei ihm, da verabschiedete er sich schon mit müder, niedergeschlagener, gelangweilter Geste. Clarissa und ich beeilten uns, zu ihrem Haus zu kommen. Obwohl das Schicksal uns dazu auserwählt hatte, entscheidende Dinge zu erleben, tauschten wir Belanglosigkeiten aus, waren so albern, wie es Verliebte nun einmal sind. Als wir bei ihr ankamen, brannte drinnen Licht.

»Mein Vater arbeitet immer nachts. Eines Tages wird er noch blind davon.«

Ich verzichtete auf einen Blick durch das Fenster des Erfinders. Er war mir in diesem Augenblick gleichgültig. Ich verabschiedete mich von Clarissa, ohne zu wissen, wann ich sie wiedersehen würde. Sie war Teil eines Systems, in dem Dinge nach einem Rhythmus auftauchten und wieder verschwanden, den ich noch nicht durchschaute.



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