Vogelherz (German Edition) by Katherine Catmull

Vogelherz (German Edition) by Katherine Catmull

Autor:Katherine Catmull
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
ISBN: 9783733600648
Herausgeber: Fischer Ki. Ju. E-Books
veröffentlicht: 2014-09-24T22:00:00+00:00


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Viele Wochen danach stand Bird an derselben Stelle in dem Auge des Schwans und beobachtete denselben See. Der Pfirsich am Horizont war jetzt goldfarben, und der tiefblaue Himmel verdunkelte sich. Aber es war noch genug Licht da, um den See zu sehen, und Bird schwankte, ob sie warten sollte, bis die Sonne ganz untergegangen war, oder ob sie hineingehen und etwas essen sollte.

Dann hörte sie etwas, was sie schon lange nicht mehr gehört hatte. Es war so lange her, dass sie es fast nicht glauben konnte. Sie fuhr herum und rannte auf die andere Seite der steinernen Veranda, um nachzusehen. Sie hatte den Ruf eines Vogels gehört – das hätte sie schwören können.

Aber obwohl sie so nahe, wie sie es wagte, an der steinernen Brüstung stand, um den sich verdunkelnden Garten und den Wald dahinter zu sehen, erblickte sie nicht einen Vogel. Vogelhäuschen voller Futter, Bäder voller Wasser standen unberührt. Missmut und Enttäuschung machten sich in ihrem Herzen breit. Sie drehte sich um, bereit, den Sonnenuntergang zu verlassen.

Und dann verharrte sie.

Genau da, wo sie zuvor gestanden hatte, saß ein Junge auf der Brüstung. Er saß rittlings auf dem schmalen Gestein, wie ein Cowboy, ein Bein in der Luft baumelnd. Die Haut des Jungen war glänzend braun, und sein Haar war ein Nest aus zerzausten dunklen Locken. Der Mundwinkel, den sie sehen konnte, war nach oben gezogen, als ob er gelacht hätte oder gleich loslachen würde.

Über sie?

Ohne den Körper zu bewegen, legte der Junge den Kopf schief und sah sie mit einem Auge an. »Du bist Bird, stimmt’s?«, sagte er.

Bird blieb stehen, wo sie war. »Wie bist du hierhergekommen?«, fragte sie.

»Ich bin geflogen«, sagte der Junge. Er schwang die Beine herum, so dass er ihr gegenübersaß; offenbar machte es ihm nichts aus, dass er auf einer Brüstung balancierte, die sich hundert Fuß über dem Boden befand. »Ich bin gekommen, um dir etwas zu sagen«, erklärte er. Er hatte ein dunkles Muttermal auf einer Backe, wie mit Holzkohle gezeichnet. »Ich bin gekommen, um dir zu sagen«, erklärte er, »dass du nach unten gehen musst.«

»Das wusste ich schon«, erwiderte Bird. »Das Lied des Patchworkvogels sprach davon.«

»Ich weiß«, sagte der Junge mit einem irritierenden Lächeln. »Das Patchworkvögelchen hatte recht. Geh nach unten, Bird. Es ist wichtig.«

Sie hasste sein breites Lächeln. Sie hasste die Leichtigkeit, mit der er am Abgrund saß. Sie hasste seinen schrecklichen Rat. Aber aus irgendeinem Grund mochte sie ihn trotzdem, inmitten ihrer Hassgefühle.

»Es ist wichtig, die Treppe wieder hinunterzusteigen? Ins Erdgeschoss, wo diese jämmerlichen, furchtbaren Vögel sind, die weder fliegen noch singen?« Sie bezweifelte das. Diese Vögel waren blöde Geschöpfe, und sie konnte es nicht ertragen, sie noch einmal anzusehen. Sie konnte es nicht ertragen. Zorn und Furcht ließen ihr Herz schneller schlagen. Vielleicht würde sie nie mehr nach unten gehen.

»Ins Erdgeschoss«, sagte der Junge, »aber nicht bloß ins Erdgeschoss. Noch weiter. Wenn du noch weiter nach unten gehst, wirst du finden, was du dir im tiefsten Herzen heimlich wünschst.«

Bird hatte das vertraute Gefühl, ihr Körper sei elektrisch geladen. Was sie sich heimlich wünschte, war, Königin zu sein.



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