Verloren unter 100 Freunden by Sherry Turkle

Verloren unter 100 Freunden by Sherry Turkle

Autor:Sherry Turkle [Turkle, Sherry]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 3570501388
Herausgeber: Riemann Verlag
veröffentlicht: 2012-04-28T22:00:00+00:00


Mein Avatar und ich

Erikson sagt, dass das Spiel mit der Identität die Aufgabe der Jugendzeit ist. Und heutzutage nutzen die Heranwachsenden das umfangreiche Material des Online-Lebens, um diese Aufgabe zu erledigen. Zum Beispiel bei einem Spiel wie The Sims Online (stellen Sie sich darunter so etwas vor wie eine sehr frühe Version von Second Life): Dort kann man einen Avatar erschaffen, der Vorstellungen von einem selbst wiedergibt, ein Haus bauen und es nach seinem Geschmack einrichten. So ausgestattet kann man sich daranmachen, jene Dinge des Lebens virtuell zu überarbeiten, die vielleicht in der Realität nicht so gut gelaufen sind.

Trish, eine schüchterne und ängstliche Dreizehnjährige, ist von ihrem alkoholabhängigen Vater brutal geschlagen worden. In The Sims Online erschafft sie eine Familie, in der Missbrauch betrieben wird, aber in dem Spiel ist ihre ebenfalls dreizehnjährige Figur körperlich und seelisch stark. In der Simulation spielt sie immer wieder durch, wie sie ihren Angreifer abwehrt. Ein sexuell überaus erfahrenes sechzehnjähriges Mädchen, Katherine, denkt sich als Avatar eine naive Jungfrau aus. »Ich möchte eine Ruhepause haben«, sagt sie. Darüber hinaus, erzählt sie mir, kann sie »üben, ein anderer Mensch zu werden. Das ist Sims für mich. Übung.«

Katherine »übt« mit dem Spiel beim Frühstück, in den Schulpausen und nach dem Essen. Sie sagt, ihr virtuelles Leben tröste sie. Ich frage sie, ob ihre Aktionen in dem Spiel irgendwelche Veränderungen in ihrem Leben herbeigeführt haben. Sie erwidert: »Eigentlich nicht«, aber dann schildert sie, wie sich ihr Leben tatsächlich zu verändern beginnt. »Ich denke darüber nach, mit meinem Freund Schluss zu machen. Ich will keinen Sex mehr, aber ich hätte schon gern einen Freund. Meine Figur auf Sims hat mehrere Freunde, aber keinen Sex. Sie [die Freunde ihres Sims-Avatars] helfen ihr bei der Arbeit. Ich glaube, um neu anzufangen, müsste ich mit meinem Freund Schluss machen.« Katherine identifiziert sich nicht völlig mit ihrer Online-Figur und redet von ihrem Avatar in der dritten Person. Trotzdem ist The Sims Online ein Standort, von dem aus sie ihr Leben neu betrachten kann.

Diese neue Art der Identitätsarbeit kann überall stattfinden, wo man sich einen Avatar zulegen kann, auch auf den Seiten sozialer Netzwerke, wo das eigene Profil zu einer Art Avatar wird, einer Darstellung nicht nur dessen, was man ist, sondern auch dessen, was man sein möchte. Teenager machen einem klar, dass Internetspiele, Internetwelten und soziale Netzwerke (die oberflächlich betrachtet sehr unterschiedlich sind) eine Menge gemeinsam haben: Sie fordern einen alle auf, eine Identität zusammenzusetzen und zu projizieren. Audrey, sechzehn, in der elften Klasse der staatlichen Roosevelt-Highschool in einem Vorort von New York City, ist überzeugt vom Zusammenhang zwischen Avataren und Profilen. Sie nennt ihr Facebook-Profil »meinen Internetzwilling« und »der Avatar von mir«.

Mona, Neuling an der Roosevelt-Highschool, hat sich erst kürzlich bei Facebook angemeldet. Ihre Eltern haben sie bis zu ihrem vierzehnten Geburtstag warten lassen, und ich treffe sie kurz nach diesem langersehnten Tag. Mona erzählt mir, sie habe »sofort Macht verspürt«, sobald sie auf der Seite war. Ich frage sie, was sie damit meint. Sie sagt: »Das Erste, was ich dachte, war: Jetzt werde ich mein wahres Ich zum Ausdruck bringen.



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