Vergiftet by Thomas Enger

Vergiftet by Thomas Enger

Autor:Thomas Enger [Enger, Thomas]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Random House DE
veröffentlicht: 2012-10-28T23:00:00+00:00


55

Iver Gundersen schließt die Tür seiner Wohnung auf, seufzt schwer und stellt die Schultertasche an der Wand auf den Boden. Er zieht die Schuhe aus, tritt an den Kühlschrank, nimmt ein Bier heraus, lässt sich auf einen Sessel plumpsen und schaltet den Fernseher ein. Gierig trinkt er die Flasche aus und spürt, dass es heute bei einem Bier nicht bleiben wird.

Eigentlich sollte er jetzt bei Nora sein, aber nach zwölf, fast dreizehn Stunden Arbeit kann und will er sich auf niemanden mehr einlassen. Seine Kräfte reichen nur noch für einen ruhigen Abend. Er würde es jetzt nicht schaffen, sich neben Nora zu legen, ihre Erwartung zu spüren, eng umschlungen einzuschlafen, den Atem eines anderen auf dem Gesicht. Sie behauptet immer, nicht schlafen zu können, wenn sie nicht den Geruch eines Arms, einer nackten Schulter oder am liebsten einer Halsbeuge in der Nase hat.

Außerdem hat Nora die Angewohnheit, sich im Schlaf plötzlich auszustrecken, und dann sind immer überall Arme und Beine, kreuz und quer. Und wenn er dann – wie immer, wenn er bei ihr schläft – früh aufwacht, quengelt sie, sodass er sich von hinten dicht an sie schmiegt und sie umarmt und vorsichtig ihre Seite streichelt. Davon kann sie nie genug bekommen. Nein, denkt Iver. Diesen Tanz würde er heute Abend nicht ertragen.

Natürlich ist sie sauer. Iver hat es ihrer Stimme angehört. Vielleicht nicht sauer, aber enttäuscht. Andererseits hat Nora Erfahrung darin, mit jemandem zusammenzuleben, den weder Wochentage noch Uhrzeiten scheren, wenn ein Fall wirklich brisant ist.

Sie haben nie darüber geredet, aber Iver spürt trotzdem, dass es Henning quält, mit dem Mann zusammenarbeiten zu müssen, der seinen Platz eingenommen hat. Iver hat Nora nie gefragt, ob sie noch Gefühle für Henning hat, glaubt es ihr aber anzusehen. Etwas anderes wäre aber – in Anbetracht der Umstände, wie ihre Beziehung zu Ende gegangen ist – wohl auch ungewöhnlich.

Man soll keine schlafenden Hunde wecken, denkt Iver. Jedenfalls nicht, wenn man nicht gebissen werden will.

Er richtet sich etwas auf, als die TV2-Nachrichten beginnen. Dass die Schlaumeier in der Halb-sieben-Sendung für den Abend Bilder von Tore Pullis Tod angekündigt haben, ist ihm nicht entgangen. Und es ist immer spannend, Bilder von einer Sache zu sehen, an der man selbst arbeitet. Ein Todesfall als solcher und die letzten Bilder der lebenden Person, bevor sie ihr Leben aushaucht, geben dem Ganzen noch eine weitere Dimension.

Er stellt den Fernseher lauter und hört, während die Bilder gezeigt werden, Guri Palmes dramatische Stimme.

Über den Todesfall selbst haben sie nichts Neues, konstatiert Iver, aber das ist auch nicht nötig. Sie haben das Beste, sie haben das, was niemand sonst hat. Er sieht Guris panische, unbeholfene Reaktion, wie sie plötzlich aus dem Bild entschwindet und um Hilfe ruft. Ihre Reaktion ist nicht geschönt worden. Das ist Reality-TV im wahrsten Sinne des Wortes.

Es sind einige Jahre ins Land gegangen, seit Iver gemeinsam mit Guri auf der Journalistenschule war. Guri hat sich damals vor jedem Gruppenbild immer erst die Haare stylen müssen, und bei jeder Porträtaufnahme achtete sie peinlich darauf, dass der Fotograf auch ihren Ausschnitt im Bild hatte.



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