Verflucht sei Dostojewski by Rahimi Atiq
Autor:Rahimi, Atiq [Rahimi, Atiq]
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
Herausgeber: Ullstein eBooks
veröffentlicht: 2012-02-13T23:00:00+00:00
EIN KÖRPER SACKT ZU Boden. Rassul öffnet die Augen. Durch den Rauchschleier hindurch erkennt er Jalal, kriecht zu ihm, schüttelt ihn. Nichts zu machen, er bleibt liegen, aus seinem Mund sickert ein Speichelfaden. »Er ist ein glücklicher Mann«, murmelt kaka Sarwar, die Augen geschlossen, den Körper zusammengekrümmt. »Er bewegt sich nicht mehr«, stellt ein junger Mann neben Rassul fest. Kaka Sarwar öffnet ein Auge, wirft einen Blick auf Jalal und fährt fort: »Er ist ein glücklicher Mann. Im Rausch ist er geboren, im Rausch wird er sterben.«
»Was machen wir mit ihm?«
»Nichts«, haucht Mostapha, abwesend, in eine Ecke der saqichana verkrochen, die Hände unter die Achseln geklemmt.
»Es ist sein Wille zu sterben. Jetzt, wo unser Leben von anderen abhängt, lass uns wenigstens das Recht zu sterben. Lass ihn in Ruhe, junger Mann, mach ihm nicht das Sterben schwer«, sagt kaka Sarwar und schließt die Augen wieder, während er leise vor sich hin trällert: »Von Kommen und Gehen, was bleibt bestehen / Wenn all unsere Hoffnungen einst verwehen? / Selbst die Weisen werden im Feuer sich verzehren / Und zu Asche verfallen, wenn sie einst gehen.«
Rassul kehrt zurück an seinen Platz, lehnt sich an die Wand und wartet, den Blick auf Jalal geheftet, darauf, noch einmal den Tod kommen zu sehen. Einen sanften, friedlichen Tod. Er wird Jalal weit wegbringen aus dieser Hölle. Er wird es ihm ersparen, an einer verirrten Kugel zu sterben oder an einem Beilhieb. Einen schmerzlosen Tod. Und es wird niemand anzuklagen, zu verurteilen, zu exekutieren sein. Kein Schuldiger zu finden. Es wird weder Verbrechen noch Strafe geben.
Er nimmt eine Zigarette und zündet sie an, dann steht er auf und verlässt die saqichana, um nach Hause zu gehen, in sein Zimmer, in dem es von Fliegen wimmelt. Er geht sofort ins Bett, zerdrückt seine Zigarettenkippe an der Wand und streckt sich aus. Irgendetwas in seiner Tasche stört ihn.
Es ist der Revolver. Er legt ihn sich auf die Brust. Was tun?, fragt er sich. Was tun?, wiederholt er ins Schweigen seiner Kehle hinein, dann versucht er zu schreien, in der Hoffnung, dass die Wörter auf seinen Lippen ertönen, im Zimmer, am Fuß des Berges, über der Stadt … Doch da ist kein Ton, keine Antwort.
Was tun, das muss ohne Fragezeichen gesprochen werden. Das ist keine Frage, sondern ein Gedanke. Nein, nicht mal ein Gedanke, ein Zustand. Ja, das ist es. Ein Zustand der Abgestumpftheit, ein Zustand, in dem eine Frage uns in Staunen versetzt, statt uns zu einer Antwort aufzufordern, in dem sie uns zuruft, aber nicht aufruft.
Was tun.
Diesen Zustand habe ich schon einmal erlebt, ich habe ihn gesehen, gespürt sogar, in den Augen eines Esels.
Es war Herbst. Und ich war elf.
Wie jedes Jahr um diese Zeit begleitete ich meinen Vater auf die Jagd in der Gegend von Dschalalabad, wo meine Großeltern einen großen qal’a besaßen – eine Art Festung aus Lehm. Das Land war noch nicht von den Sowjets überfallen worden, der Krieg hatte noch nicht begonnen, und mein Vater verstand sich noch gut mit seinen Schwiegereltern, die die Kommunisten verachteten.
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