Venedig kann sehr kalt sein by Highsmith Patricia

Venedig kann sehr kalt sein by Highsmith Patricia

Autor:Highsmith, Patricia [Highsmith, Patricia]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 9783257603989
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-01-12T00:00:00+00:00


[180] 12

Coleman hatte Ray Garrett am Nachmittag des 19. November, einem Freitag, in den Arkaden der Piazza San Marco gesehen. Daß Ray an der auffälligsten Stelle der Stadt herumspazierte – abgesehen vielleicht von Harry’s Bar, in die er am Abend zuvor hineingeschaut hatte –, daß Ray in seiner Arroganz annahm, Coleman werde es nicht wagen, ihn anzusprechen oder irgendwem zu erzählen, er habe Ray gesehen –, das verdarb Coleman gründlich die Laune, was er vor Inez zu verbergen suchte. Ganz gelang ihm das nicht. Am selben Abend fragte sie ihn, was los sei, und weil er ihr den Grund nicht nennen konnte, sagte sie ihm, er sehe aus wie von Sinnen. Das reizte ihn noch mehr.

In der Nacht war Inez äußerst abweisend, ließ sich nicht einmal umarmen oder auf die Wange küssen. Gekränkt schlief Coleman zum ersten Mal im eigenen Bett.

Am nächsten Morgen, dem Samstag, rief die Polizei an, während Inez und er frühstückten: Ob Signor Coleman so freundlich wäre, nachmittags um vier auf das Revier am Piazzale Roma zu kommen? Coleman konnte schlecht nein sagen. Die Fahrt würde lang und lästig sein, denn der Tag war regnerisch, Windböen schleuderten Wasser gegen ihre Fenster im Bauer-Grünwald, der Regen prasselte wie Schrothagel gegen das Glas.

[181] Coleman berichtete Inez von der Vorladung und sagte dann: »Verlassen wir dieses Hotel. Ziehen wir um, meine ich.«

»Und wohin?« Rhetorisch klang ihre Frage, gleichgültig.

»Ins Gritti Palace zum Beispiel. Ein schönes Hotel. Ich war da schon mal.« Nicht über Nacht, er hatte dort nur einmal mit Freunden gegessen, erinnerte er sich. Aber egal, das Hotel war wirklich gut. Daß Ray wußte, wo er wohnte, ärgerte ihn – und daß er selber nicht wußte, wo Ray war.

»Wenn du willst«, erwiderte Inez, so als ließe sie einem Kind seinen Willen.

Er war schon froh, daß sie nicht vorschlug, die Stadt zu verlassen. Außerdem war er sich ganz und gar nicht sicher, ob er Venedig zur Zeit überhaupt verlassen durfte; vielleicht war auch ihr das bewußt. »Bis zwölf können wir ausziehen, nehme ich an. Das ist gewöhnlich die Zeit, das Zimmer zu räumen.«

»Du solltest lieber vorher fragen, ob sie dort noch Zimmer frei haben.«

»Um diese Jahreszeit? Bestimmt.« Dennoch ging er zum Telefon, reservierte zwei Zimmer im Gritti, jedes mit eigenem Bad, da Zimmer mit gemeinsamem Bad gerade nicht frei waren. Inez wollte ihr eigenes Zimmer, selbst wenn sie die ganze Zeit in seinem oder ihrem verbrachten.

Kurz darauf brachte ein Page einen Brief auf einem Tablett. Für ihn, sah Coleman. Er gab dem Jungen ein Hundertlirestück.

»Aus Rom«, sagte er.

Inez, am anderen Ende des Raumes, konnte die [182] schwarze Tintenschrift nicht sehen (eckig, fast nur Druckbuchstaben). Coleman erkannte sie sofort als Rays Schrift.

Langsam schlenderte er in sein Zimmer, öffnete dabei den Brief und bemerkte dann beiläufig: »Ah ja, von Dick Purcell.« Coleman hatte ihr seinen Nachbarn in Rom vorgestellt; Purcell war ein amerikanischer Architekt.

Coleman stand neben seiner Leselampe, von der Badezimmertür aus hinter dem Bett, und zwar seitlich, damit ihm nicht entgehen würde, wenn Inez hereinkäme. Er las den Brief, und mit jedem Absatz schlug sein Herz ein bißchen schneller.



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